Wie schnell…

Ich flog auf dem Motorradrücksitz durch die Atmosphäre, Bodenhaftung hatten wir, glaube ich, keine mehr. Der Randolf hatte unter Ausnutzung aller PS der schnellen Ducati einen waghalsigen Überholvorgang auf der kurvenreichen Straße nach Hollfeld in der Fränkischen Schweiz unternommen und jetzt raste ein schwerer, breiter BMW direkt auf uns zu. Das war es gewesen, ich wusste es, es gab kein Entkommen mehr. Ich fing an zu beten mit dem „Vater unser…“ und wusste, dass ich es nicht zu Ende bringen würde. Durch ein Wunder – nicht WIE durch ein Wunder — war der BMW nach „Geheiligt werde dein Name“ vorbei und der Randolf hielt an einem Parkplatz, wo ich ihn zitternd und weiß im Gesicht mit dieser Todeserfahrung konfrontierte. „Wir hätten tot sein können!“, klagte ich. „Ja, man kann immer tot sein“, räumte er ein. „ Bisschen knapp vielleicht. Im Grunde war das eine ganz normale Verkehrssituation.“ Das war es nicht. Die Ducati war schon unser drittes Motorrad, ich war viele Kilometer mit ihm gefahren, um klar zu wissen, dass er Menschenleben riskiert hatte. Und wenn ein paar Zentimeter links gefehlt hätten, wäre er im Leben nie mehr froh geworden, auch das wusste ich sicher. Wenn er das Leben da überhaupt noch gehabt hätte. Ich wollte nicht mehr mit ihm weiterfahren, ich wollte ein Taxi haben. Er sagte, hier gäbe es keine Taxis und versprach mit 30 Stundenkilometern nach Hause zu hoppeln wie ein Osterhäschen und auch zukünftig so zu fahren, was er auch nur bedingt gehalten hat.

Aber noch tiefer als der wirklich furchtbare Schreck, als der BMW auftauchte, ist mir die folgende Zeit in Erinnerung geblieben, weil dieses Erlebnis ein neues, anderes Lebensgefühl in mir auslöste: Wie SCHNELL alles vorbei sein kann! Manchmal blieb ich in der Hausarbeit plötzlich stecken und richtete mich auf, als müsste ich von irgendwo eine Stimme hören, die mir eine Erklärung geben würde zu dem, was passiert war. Wenn ich das Martinshorn der Notfallambulanz hörte, war ich fest davon überzeugt, dass es diesmal wirklich den Randolf oder eines der Kinder erwischt hätte, der schwer verletzt oder tot abtransportiert würde. Nachts schreckte ich plötzlich aus dem Traum auf und stellte wütend fest, dass meine heitere Unbeschwertheit vorbei war, dass meine Wirklichkeit, die immer so gut gepasst hatte, wie ein gut sitzender Schuh, zerstört war.

Die Wirklichkeit. Was ist wirklich? Die dauernde Gefährdung des Lebens ist wirklich, schon vom ersten Atemzug an, wird weiter wirklich durch Krieg, Hunger, Krankheiten, Unfälle. Die Zeitungen zeigen es jeden Tag, ja, das Leben zeigt es jeden Tag: Corona-Tote auf den Intensivstationen, qualvoll erstickt, durch russische Raketen getötete Kinder in einem Wohnhaus sind kein Horrorfilm, auch wenn er sich wie einer anfühlt: Es ist die Wirklichkeit. Wir alle wissen das. Die meisten von uns haben gelernt, diese elementare Angst immer wieder wegzuschieben zu Gunsten eines funktionierenden Alltags. Manche betäuben die Angst mit Alkohol, manche mit Erlebnisräuschen, aber sie kommt immer wieder und sucht eine Antwort.

Wenn die Angst größer wird, wie in unseren Tagen, wird auch die Suche nach der Antwort dringender. Das ist vielleicht das Gute daran, dass man sich ehrlicher, direkter fragt: Was ist wenn …?
Der sonnige Urlaub mit den idyllischen Wanderwegen war Wirklichkeit, die Blumen, die die Kinder bringen, die wunderbare Forelle im Waldhäusl: Auch das ist die Wirklichkeit. Und diese Wirklichkeit sieht einen so an, als ob man gar nicht genug dankbar sein darf für das, was einem jetzt geschenkt wird: Klare Luft, sauberes Wasser, Freiheit, genug zu essen und dass man soweit gesund ist. Welche Antwort fordert diese Wirklichkeit? Es ist doch EIN Leben, das schöne und das schreckliche. Aber es ist eben auch NUR ein Leben, das wir hier haben. Von einer Nachbesserung im Jenseits ist erstmal nicht die Rede. Wir haben eine Chance, diese Chance von der Wirklichkeit zur Wahrheit zu kommen.

Und jetzt?

In einem alten Nachtwächterlied kommt folgender Vers vor:

„Hört, ihr Herrn und lasst euch sagen:

Unsre Uhr hat zwei geschlagen:

Zwei Weg hat der Mensch vor sich,

Herr, den rechten lehre mich.“

 

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Wie schnell - Glosse von Ruth Hanke
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