Hammer nimmer!

Mein Opa wuchs in der Kornstraße in Fürth auf als Ältestes von elf Kindern. Sein Vater war ein einfacher Arbeiter, die Mutter Hausfrau und sie mussten mit dem Geld sehr sparen. Als mein Opa sechs Jahre alt war, schickte ihn seine Mutter zum Bäcker, um Semmelbrösel für die Fleischklöße zu holen.
„Bitte für drei Pfenning Semmelbrösel.“
„Hammer nimmer.“, war die Antwort.
„Ach bitte, dann zwei Scheiben Weißbrot!“
„Hammer nimmer.“
„Einen Kanten altes Brot?“
„Hammer nimmer.“
„Dann geben Sie mir ein halbes Brötchen!“

„Und das hatten sie?“, fragte ich meinen Opa, als er mir die Geschichte siebzig Jahre später erzählte. Er nickte. Ich weiß noch, dass ich mich gewundert habe, dass damals ein Brötchen offenbar sechs Pfenning kostete und darüber, dass man auch ein halbes kaufen konnte.
Am Meisten aber wunderten mich der Einfallsreichtum und die Flexibilität, die mein Opa schon mit sechs Jahren hatte.
Ich glaube, ich wäre spätestens nach dem zweiten „Hammer nimmer!“ nach Hause gegangen und hätte meiner Mutter berichtet, es wäre nichts zu machen.

Im Jahr 1989 bekam mein Bruder Frieder, der in Würzburg Physik studierte, zusammen mit seinem Professor, Herrn Dr. von Ortenberg ein Stipendium an der Tokai-Universität in Tokyo. Einerseits freute ich mich von Herzen über seinen Erfolg, andererseits stand ich vor der Frage, wie wir jetzt unseren bis dahin engen Kontakt aufrechterhalten wollten.

E-Mails gab es damals noch nicht. Und Telefonieren war unbezahlbar, also beschloss ich ihm zu schreiben und begab mich in die Hauptpost am Fürther Hauptbahnhof. Über einem Schalter stand „Briefmarken“. Da stellte ich mich an. Als ich an der Reihe war, sagte ich zu der missmutig aussehenden Frau hinter der Plexiglasscheibe:

„Ich möchte bitte einen Block Aerogramme.“
„Was meinen Sie damit, >Aerogramm< ?“, fragte sie.
„Ich meine einen Luftpostbrief zum Falten.“
„Jeden Brief kann man falten.“, erklärte sie kategorisch.
„Gewiss!“, erwiderte ich. „Aber es gibt doch diese Luftpostbriefe, die auf einer Seite beschriftet werden, und auf der anderen Seite ist das der Umschlag.“
„Nein!“, rief sie gereizt. „So was gibt’s nicht!“
„Doch!“, sagte ich. „Bitte! Und hier habe ich die letzten gekauft. Ich habe an meinen Bruder in Japan geschrieben.“
„Ich werd‘ ja wohl noch wissen, was wir hier verkaufen!“, schäumte sie. „Und ich kenne niemanden in Japan! Der nächste!“
„Ah…Augenblick noch!“, stotterte ich. „Ich bräuchte noch zehn 1-Mark-Briefmarken.“
„Hammer nimmer!“
„Dann zehn 80iger und zehn 20iger.“
„Hammer nimmer!“
„Dann eben zwanzig 50-Pfennig-Marken?“
„Hammer nimmer!“

Und da riss mir der Geduldsfaden, ich erinnerte mich schlagartig an meinen Opa und sagte die Worte, die den anschließenden Tumult auslösten.
Ich sagte: „Dann geben Sie mir ein halbes Weckle!“

Die Frau sprang von ihrem Sitz auf.
„Polizei!“, schrie sie. „Sie sind eine Verrückte! Ich… Ich lasse Sie festnehmen!“
Ich trat den Rückzug an, hatte für Gesprächsstoff gesorgt, hatte keine Aerogramme und keine Briefmarken.

 

Mich überkam ein Gefühl von Wagemut und Abenteuer, als ich die Hauptpost in Erlangen betrat, so wie wenn man einen Ozeandampfer besteigt und nicht weiß, was einen erwartet. Mutig näherte ich mich in der Höhle des Löwen dem Schalter über dem „Briefmarken“ stand.

„Äh.“, krächzte ich plötzlich heißer. „Ich… äh… hätte gerne einen Block Luftpostbriefe…“
Freundlich lächelnd schob mir die Frau hinter dem Schalter einen Block der begehrten, blauen Briefe zu.
„Hei!“, rief ich. „Aerogramme!“
„Genau.“, bestätigte sie. „Was sollte es sonst sein?“
„Oh… und haben Sie auch… Briefmarken?“
„So viel Sie wollen. Was darf‘s den sein?“
„Zehn 1-Mark-Marken?“
„Haben wir.“ Sie gab mir das Gewünschte.
Ich zahlte und ging. Draußen blinzelte ich ungläubig in die Frühlingssonne.

Mein Bruder schrieb aus Japan von Kirschblütenfesten auf Friedhöfen, von explodierenden Magneten in Laboren, von Nobelpreisträgern, die mit ihm diskutierten und dass Professor Yamamoto ihn zum Thanksgiving eingeladen hatte.

Solche Sensationen hatte ich zwar nicht zu berichten. Immerhin konnte ich meinem Bruder schreiben, welche Hindernisse ich überwunden hatte, um mit ihm in Kontakt zu bleiben.

Wenn man weiß, wofür, hält man alles aus.

 

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Hammer nimmer! - Glosse von Ruth Hanke
Glossen von Ruth HankeHammer nimmer!

  • Beate Hausherr

    2016-08-13 das tollste an der Geschichte ist ja heutzutage, dass die meisten Menschen weder wissen was ein Aerogramme noch was ein Luftpostfaltbrief ist. Gibt es bei der Schweizer Post und der Deutschen Post ja auch nicht mehr. In anderen Ländern aber schon. Aber… das ist halt wirklich Retro. Alles Gute rundum
    Grüezi und Lebewohl

    • Ruth Hanke

      Liebe Beate Hausherr!

      Danke für Ihren Kommentar! Es ist das erste Feedback aus der Schweiz! Sie haben wirklich Recht, unter einem Aerogramme können sich viele Menschen heute nichts mehr vorstellen, es ist unglaublich wie schnell die Entwicklung bei den Kommunikationsmedien vorangeschritten ist und weiter voranschreitet, aber so war es damals, kommt mir manchmal so vor, als wäre es erst gestern gewesen …
      Alles Liebe und Gute!
      Viele Grüße
      von

      Ruth Hanke

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