Wer lesen kann…

…ist klar im Vorteil. Das muss auch die kleine Franziska gedacht haben, die sich mit knapp fünf Jahren Lesen selbst beigebracht hatte. Ab und zu kam sie zu mir, um sich Auskunft über einen Buchstaben abzuholen. „Mama, was macht dieses Zeichen?“, fragte sie. „Das ist ein „K“ wie Küche, Kanal oder Kirche“, antwortete ich dann. Damit zog sie ab und baute diesen neuen Baustein in ihr schon vorhandenes Wissen ein. Mein Vater hatte mir geraten, dem Wissensdurst eines Kindes keine Steine in den Weg zu legen, ihm aber auch kein Wissen aufzudrängen, das es noch nicht haben wollte. Ich hielt mich also weitgehend heraus und Franziska kaufte sich schon vor der Einschulung Lesestoff von ihrem Taschengeld. Sie verstand am Anfang der ersten Klasse die Arbeitsanleitungen im Deutschbuch, die sonst die Lehrerin vorlas: Ein klarer Vorteil.

Inzwischen frage ich mich allerdings, ob man die nie angezweifelte Aussage, dass es ein klarer Vorteil ist, lesen zu können, einfach so stehen lassen kann. Wie viele Menschen haben sich schon durch kritikloses Lesen von skrupellosen Fake News, verlogenen Tweets, demagogischer Hetze, den Nachteil einer falschen und angsterfüllten Weltsicht eingefangen? Vielleicht ist es für einen erwachsenen Menschen mit dem Lesen wie mit dem Besitz eines Autos? Ein Auto besitzen ist schön, aber fahren kann und darf man es nur mit einem Führerschein. Wir brauchen nicht nur die Fähigkeit etwas zu lesen, sondern auch die, es zu verstehen, UND das Gelesene kritisch zu hinterfragen, auch Nachrichten von seriösen Medien. Es gibt keinen staatlichen Lese-Führerschein. Wir selbst müssen uns der Mühe einer genauen Auseinandersetzung mit Nachrichten unterziehen, wenn unsere Informationen nicht den Charakter einer Spekulation, eines Klatsches, einer üblen Nachrede haben sollen. Sonst ist Lesen können nicht ein Vorteil, sondern ein die Gemeinschaft gefährdender Nachteil, wenn jeder alles und alles Negative glaubt.

Eine Sonderstellung bei dem, was man lesen sollte und was nicht, nimmt der Beipackzettel von Medikamenten ein. Einerseits könnte die haarsträubende Wirkung der aufgezählten Nebenwirkungen manchen abhalten, Tabletten wie Smarties einzunehmen; andererseits kann man, wenn es wirklich ernst wird, vom Lesen des Beipackzettels nur abraten. Während der Schwangerschaft meines zweiten Kindes hatte ich eine schlimme Nierenbeckenentzündung und der Arzt antwortete auf meine Fragen, ob die Tabletten auch nicht dem Kind schaden würden:

„Glauben Sie mir: Dieses Medikament wurde genau für Ihre Situation entwickelt. Wir haben auch gar keine Wahl: Regen Sie sich nicht auf, lesen Sie nicht den Beipackzettel, sondern werden Sie so schnell wie möglich gesund, das ist für Sie und Ihr Kind das Beste!“ Recht hat er!

Bleiben Sie gesund!

 

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Wer lesen kann - Glosse von Ruth Hanke

 

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