Selbsterkenntnis

Der Randolf und ich waren noch jung, gerade von einem zweiwöchigen Urlaub zurückgekommen und bei meinem Opa zu einem wunderbaren Gansbraten eingeladen, den seine Frau Paula zubereitet hatte und als wir uns satt und zufrieden zurücklehnten, fragte uns mein Opa mit trügerischer Arglosigkeit: „Habt ihr euren Küchenstuhl schon repariert?“

Er hatte uns das schon öfters gefragt und immer hatten wir bedauernd den Kopf geschüttelt, worauf er uns geduldig ermahnt hatte, doch die eine herausgefallene Schraube wieder einzusetzen, weil sonst der schöne Stuhl unweigerlich kaputt gehen würde.

Seitdem mein verwitweter Opa die Paula kennengelernt und geheiratet hatte, war ich glücklicherweise in den Genuss von Paulas Wohnung gekommen, einer vollständig eingerichteten und blitzsauberen Wohnung. Was Ordnung und Sauberkeit anbetraf, waren die Altvorderen meiner damaligen Ansicht nach nicht nur gewissenhaft, sondern geradezu abartig pedantisch und übertrieben reinlichkeitsfanatisch. Obwohl sie uns beide herzlich zugetan waren, fiel es ihnen etwas schwer mitanzusehen, dass wir im Haushalt so gar keinen Überblick hatten und die Wohnung unter unserer Gleichgültigkeit zusehends zu dem verkam, was mein Opa bei sich im Stillen einen Saustall genannt hätte.

An einem Samstag früh um halb acht klingelte es an der Haustür und als ich, noch im Nachthemd, öffnete, sah ich zwei Leutchen, die offenbar Eimer und Besen verkaufen wollten, ich murmelte schlaftrunken: „Nein, danke, ich brauche nichts.“ Und machte die Türe wieder zu, als es erneut klingelte, diesmal energischer als zuvor. Ich rieb mir die Augen, als Opa und Paula, unter einem Aufbau von Besen, Eimern, Schrubbern, Lappen und Putzmitteln fast nicht mehr sichtbar, in die Wohnung drängten.

„Geh, lass uns rein“, sagte mein Opa. „Wir müssen jetzt anfangen, dass wir heute Abend fertig sind!“ Von da an fegten die beiden wie ein weißer Wirbelwind durch die Wohnung, dass es Meister Propper nicht besser gekonnt hätte. Es wurde aus Leibeskräften gesaugt, geschrubbt, Vorhänge gewaschen, Fenster geputzt, entkalkt, desinfiziert, gespült und poliert. Mir war das unangenehm, dass sich die beiden Alten so abschufteten und bot immer wieder meine Arbeitskraft an, wurde aber abschlägig beschieden. Ich brachte offenbar nicht einmal die moralische Reife mit, um die Leiter halten zu dürfen. Einzig um die Mittagszeit wurde ich einer kleinen Mithilfe für würdig befunden: Der Opa schickte mich zur Imbissbude, um drei Schnitzelsandwiches zu holen, denn zum Kochen hatten die beiden an einem derart wichtigen Tag keine Zeit.

Als sie mich um 18.00 Uhr wieder verließen, saß ich in einer unnatürlich glänzenden, einschüchternd aseptischen Wohnung, in der nicht einmal unsere beiden Wellensittiche noch einen Mucks von sich gaben.
Für den Opa war es selbstverständlich, dass er in unserer Abwesenheit die Vögel fütterte und in der Wohnung nach dem Rechten sah. Wie erwartet sah die Wohnung tipptopp aus und den Wellensittichen ging es gut.
Aber jetzt fragte uns der Opa wieder: „Habt ihr den Küchenstuhl schon repariert?“

„Ja!“, wollte ich sagen, weil ich wusste, dass es höchste Zeit wäre, die dumme Schraube endlich zu befestigen, ja sagen wollte ich und es dann daheim schleunigst erledigen, damit es aus der Welt wäre. Dem Randolf lag dieses „ja“ auch auf der Zunge, ich spürte es genau, ich sah ihn an und er mich, es entstand eine kurze Stille, dann antworteten wir: „Wir haben es leider immer noch nicht geschafft, Opa.“ Und „Nein, tut uns Leid.“ Die Paula war empört: „Also, Fritz!“, schimpfte sie und indem sie auf ihn zeigte, meinte sie: „ER hat ihn nämlich schon repariert!“

„Allmächt, das war knapp!“, stöhnte ich auf dem Heimweg. „Ja“, stimmte der Randolf zu: „Aber haarscharf! Ich darf gar nicht dran denken, wie uns der Alte aufs Glatteis geführt hätte! Keinen Ton hätte er auf unsere Lügerei geantwortet, bis wir irgendwann von selbst gemerkt hätten, dass der Opa schon den Stuhl repariert hat – und wie wären wir dann dagestanden!“

Eine unsichtbare Macht hatte uns wohlmeinend im letzten Moment davor bewahrt, etwas Falsches zu sagen, so dass uns mein Opa zwar weiterhin für große Schlamper, aber nicht für Lügner hielt, auf deren Wort nichts zu geben ist.

Seit dieser Zeit bin ich etwas nachsichtiger, wenn ich das Gefühl habe, dass mir ein anderer nicht ganz die Wahrheit sagt.

 

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Selbsterkenntnis - Glosse von Ruth Hanke
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