Rund um die Kugel

Was müsste ein Außerirdischer denken, der zufällig an unserer Erde vorbeikommt und der allerorts riesigen Fußballstadien ansichtig wird, die bis zu 100.000 Besucher fassen und wo in Abständen tobende Feste abgehalten werden? Er würde denken, wir huldigen dem Gott der Kugel!

Vielleicht würde er verständnisvoll lächeln bei dem Gedanken, dass wir witzigerweise eine kleine symbolische Weltkugel ins Spiel gebracht haben, um die gekämpft wird. Und nicht nur, weil sie rollt: Wir Menschen lieben die Kugel, den Ball wie närrisch: Der Ball wird auf das Tor geschossen, durch Körbe geworfen, über Tennis- und Tischtennisnetze geschlagen, er feiert als Wasserball, Strandvolleyball, ja sogar als Polo hoch zu Pferd Triumphe und ein wahrer Maharadscha spielt immer noch Elefanten-Polo. Beim Roulette kommt es auf eine winzige Kugel an, bei der es um gewaltige Summen geht, die Kinder hüten ihre Schusser und die Frauen lieben ihre Perlen. Der Hype um die Kugel als Buchstütze, Lampenschirm, Klangkugel oder Schlüsselanhänger ist uns so selbstverständlich, dass wir ihn gar nicht mehr bemerken, bis auf Weihnachten vielleicht, wo der Wahnsinn mit der Kugel in ein berauschendes Finale mündet!

Im Jahr 1969, als ich den Sohn unserer Siebenbürgen-Nachbarn, den Hansi, näher kennen lernte, lud er mich herzlich zu sich nach Hause ein, um mir die weihnachtliche Pracht seines Wohnzimmers vorzuführen. Mühevoll blinzelnd stand ich vor einer gewaltigen Tanne, aus der absolut nichts Grünes mehr durchblitzte. „Wir haben zehn Päckchen Lametta gekauft, mein Daddy und ich“, berichtete Hansi stolz und das hatten sie, so wie es war, im ganzen Packen auf den Baum montiert, etwa so als wollte man ein Dach decken: Ziegel an Ziegel. Darüber schrillten große, leuchtende Christbaumkugeln in psychedelischen Farben, z. B. in türkis, hellgrün, pink und neonorange; ausschweifende Perlenketten hingen schwer von den überlasteten Ästen herab, gleich vier unterschiedlich farbige Lichterketten blinkten hektisch wie das Cockpit eines Flugzeugs kurz vor dem Absturz. Der Teppich davor schrie einen in 17 synthetischen Farben an und der neue Farbfernseher flimmerte und dröhnte in voller Lautstärke: Es lief Tarzan.

Meine Mutter fragte mich, wie es mir gefallen hätte und ich weiß noch, dass ich nicht im Stande war, für das, was mir passiert war, irgendein Wort zu finden: Ich hatte stechende Kopfschmerzen und glühende Ohren. Aber auch unser Haus hatte einen niederschmetternden Eindruck auf Hansi gemacht, wie mir seine Mutter Jahre später berichtet hat. Mit Tränen des Zorns und des Mitleids in den Augen wäre der Hansi heimgekommen und hatte den erbarmungswürdigen Augenzeugenbericht abgeliefert: „Es ist furchtbar! Ihr Vater hat keine Arbeit, sie haben nichts zu essen, nur ein paar alte Äpfel und keine Christbaumkugeln! Sie mussten sich aus Stroh irgendetwas selber machen!“ Genau! Man kann es auch übertreiben mit dem Stilempfinden!

In Wahrheit braucht ein Christbaum kein Stilempfinden, sondern Platz, Pluralismus und genug Kugeln. Natürlich gehen immer mal wieder ein paar Kugeln kaputt, ein paar werden mit Silberstiften verziert und verschenkt, es kommen neue dazu und so entsteht im Laufe der Zeit eine Art Familienschatz an Christbaumschmuck, der alljährlich schon beim Auspacken ein inniges Entzücken an Erinnerungen auslöst.
„Schau mal da! Das habe ich 1989 beim Staudt gekauft. Da waren Sonne, Mond und Sterne modern, das hab ich von Deiner Mutter und dies von Tante Anneliese ….“. Uns begegnet sogar alle Jahre wieder eine Art monströser „Fußball“ in stark glänzendem Plastikrot, auf dem in Flockprint die goldene Aufschrift „Joyeux Noel“ prangt und den uns mein Bruder seinerzeit aus Frankreich mitgebracht hat.

Vor dieser Kugel hat noch jeder Ast und all unser Stilempfinden kapituliert, aber bis auf diesen Fußball: Nirgends als an einem Christbaum wird der familien- ja völkerübergreifende Charakter des alles mit Einbeziehens so deutlich, nirgends sonst die Versöhnung zwischen neu und alt, Natur und Plastik, schrill und dezent, Silber und Altgold, Engeln, Schleifen, Kugeln und Glöckchen so wunderbar sichtbar wie an einem Christbaum. Es ist wirklich nicht der Augenblick mit starrsinnigen Geschmacksverordnungen die große Gemeinschaft zu boykottieren. Wer einmal erlebt hat, wie aus der geheimnisvoll funkelnden Vielfalt plötzlich ein wunderbar verschmolzenes großes Ganzes wird, hört es, noch vor dem ersten Lied, förmlich zwischen den Zweigen hervorflüstern:

„…und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“

 


 

Rund um die Kugel - Glosse von Ruth Hanke
Glossen von Ruth HankeRund um die Kugel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.