Ein Traum von einer Lilie

Blumen sind mein Methadon, auch schon, als wir unseren ersten eigenen Garten hatten. Daher kaufte ich ordentlich Zwiebeln meiner Lieblingsblume, der weißen Lilie und setzte sie in die Erde an den Zaun unseres Nachbargrundstücks. Unser Nachbar, der alte Opa Ruff, betrachtete mit mildem Lächeln meine Bemühungen und enthielt sich jeder Äußerung. Dass er selbst ein Gartenspezialist, um nicht zu sagen Gartenfanatiker war, konnte man nicht an seinen Reden, sondern an seinem Handeln erkennen: Einmal trafen wir ihn während eines Regengusses im Garten an, wo er mit Regenhut und Mantel die Blumenrabatte goss. „Aber es regnet doch!“, meinte ich. „Haben Sie schon mal 5 Zentimeter unter die Erde geschaut?“, gab er zurück. „Alles strohtrocken!“ Und mit eiserner Energie fuhr er fort, seinen Garten zu bewässern. Der sah aber auch aus wie gemalt: Der Rasen war ein Smaragd-farbiger Samtteppich, die Blumen ein üppiges Feuerwerk, die Gemüsebeete gepflegt und ertragreich. Leider hoffte ich umsonst auf schöne Lilien: Im ersten Jahr entspross den vielen Zwiebeln eine einzige kümmerliche Blüte und im zweiten Jahr kam nur noch ein grüner Trieb ohne Blüte heraus. Man hatte mich betrogen! Zornig warf ich die nutzlosen Zwiebeln auf den Komposthaufen. „Ach, bitte, Frau Hanke, darf ich das nehmen?“, fragte unser Nachbar. „Ja, gerne, aber sie sind kaputt!“, meinte ich. Unbeirrt sammelte er die Zwiebeln auf. Diese Kriegsgeneration, dachte ich, wirft eben nicht gerne etwas weg.

Mit der Zeit verabschiedeten sich der Randolf und ich von jedem Perfektionismus: Wir störten uns nicht mehr daran, wenn die Stare den riesigen Kirschbaum plünderten oder wenn die Kleine den Sandkastensand über das ganze Grundstück verteilte, sondern freuten uns an den romantischen Gartenfesten. Im folgenden Frühjahr traute ich meinen Augen kaum: Unser Nachbar zäunte gerade eine ungeheuer große, weiße Wolke Lilien mit einem kleinen Stützgitter ein. „Ihre Lilien“, meinte er und reichte mir eine für die Vase herüber. „Man muss bloß etwas Geduld haben.“ Ich war perplex, dann musste ich lachen: „Ja, Respekt, nächstes Mal gebe ich Ihnen die Zwiebeln gleich. Sie können das besser und ich habe doch genauso viel Freude an den Blumen, wenn sie auf Ihrer Seite des Zauns blühen wie auf meiner!“

Wofür ist ein Garten da? Um sich zu entspannen, sich zu freuen, an seinen eigenen Blumen – und denen der Nachbarn.

 

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Ein Traum von einer Lilie - Glosse von Ruth Hanke

 

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