KURZGESCHICHTE: Was im Himmel ist

Harald Herbholz kehrte am Ende dieses kalten und unfreundlichen Dezembertages ins „Desaster“ ein. „Desaster“ hieß seine Kneipe, unweit entfernt von seiner Mietswohnung, wo er sich an jedem Freitagabend, wenn er aus dem Gefängnis kam, ein paar Cognacs genehmigte. Er brauchte das, nachdem er seinen Adoptivsohn Peter Ackermann besucht hatte, der wegen Mordversuchs an seiner – demnächst geschiedenen – Frau Poppy einsaß. Er war zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden. Sein Plan, mit Poppy, der unehelichen Tochter von Aegidius von Stieglitz ein großes Erbe zu erheiraten, wäre vielleicht sogar aufgegangen, wenn es Peter nicht eingefallen wäre, Poppy nach dem Tod von Aegidius auch noch gleich um die Ecke bringen zu wollen, damit er als ihr Alleinerbe das ganze Geld für sich hätte behalten können.

Die Gespräche über die Glaswand hinweg, im Beisein eines Polizeibeamten gestalteten sich etwas unergiebig, fand Harald. Peter sah nicht gut aus. Er hatte offenbar weder innerlich noch äußerlich genug Kraft und Widerstand, um den desillusionierenden Gefängnisalltag mit Würde und Gleichmut zu überstehen. Er beschwerte sich heftig über die Bedingungen, in denen er jetzt lebte. Die Liste der Dinge, die ihm fehlten, war lang: Harald brachte ihm jede Woche eine ganze Tüte Bücher, Zigaretten, Schokolade und Obst mit, aber Medikamente durfte Harald ihm nicht mitbringen. Peter klagte über Kopfschmerzen und darüber, dass der Gefängnisarzt, ein dauernd abwesender, gleichgültiger Typ, ihm nichts dagegen geben wollte. Einmal beschwerte sich Peter darüber, dass Poppy ihn immer noch nicht besucht hatte, und Harald konnte ihm nichts Anderes erwidern, als dass Poppy nicht kommen wollte. „Kann ihr ja schließlich auch keiner verdenken, oder?“, hatte Harald hinzugefügt. Peter hatte jetzt Zeit, um nachzudenken, aber weit, fand Harald, war er damit noch nicht gekommen. Und er selbst fragte sich jedes Mal, wenn er ins „Desaster“ kam, aber nicht nur dann, was er mit Peter alles falsch gemacht hatte.

Der Besitzer der Kneipe, überlegte Harald jetzt, war sich vielleicht wie ein Spaßvogel vorgekommen, als er seine Kneipe „Desaster“ nannte, aber weit entfernt von der Realität war dieser Name nicht. Fast alle, die hier abhingen, befanden sich mehr oder weniger im Desaster. Manchen sah man das nicht so deutlich an, sie wirkten lässig, cool, ein bisschen wortkarg und ließen sich nicht leicht in die Karten schauen. Andere hielten sich nicht so gut, wie der Typ neben ihm auf dem Barhocker, der aussah, als würde er gleich umkippen. „Oh, Jesus, Jesus, will nicht mehr…“, lallte er. Fast gegen seinen Willen betrachtete Harald ihn genauer: Er war ein mittelgroßer, schlanker Mann mit sandfarbenem, unordentlichem Haar, schwarz gekleidet und trug einen recht auffälligen, goldenen Ring an der linken Hand. Dieser Ring war wie eine Münze gestaltet, die einen Pferdekopf zeigte. In das Auge des Pferdes war ein großer funkelnder Stein eingearbeitet, ein Diamant, wenn der Stein echt war. Um den Hals trug er eine schwere Kette mit Kruzifix-Anhänger, auch aus Gold.

Irgendwie erinnerte Harald die ganze Aufmachung an einen Gangster-Rapper, nur das Gesicht passte nicht dazu, es sah sensibel und todunglücklich aus. Als er zahlen wollte, stellte er fest, dass er nicht genug Geld bei sich hatte und was seine Kreditkarte betraf, hatte er die PIN-Nummer vergessen. Der Wirt erbot sich, den Ring als Zahlmittel zu akzeptieren, worauf Harald fragte: „Wieviel ist es denn?“ „57 Euro“, lautete die Antwort. Harald sah den Ring an und meinte: „Günstig! So kann man das natürlich auch machen!“ Er zahlte für den Betrunkenen und fragte ihn, wo er hinwollte. Nach längerem Nachfragen kam heraus, dass der Kerl, er hieß Andy Rossthaler, auf einer Parkbank nächtigen wollte. Schließlich landeten sie beide in Haralds Wohnung, wo ihm Harald die Couch im Wohnzimmer herrichtete und Andy Rossthaler ohne weitere Zwischenfälle einschlief. –

Andy Rossthaler kam am nächsten Tag, einem Samstag um halb elf zu sich. Er sah aus wie der personifizierte Restalkohol, war aber geistig wieder klar. Die Sache war ihm furchtbar peinlich. „Ich komme natürlich für den Schaden auf, der entstanden ist“; beteuerte er. „Es ist zu gütig von Ihnen, dass Sie mich aufgenommen haben.“ Dann sah er aus dem Fenster und meinte, als würde er etwas völlig Selbstverständliches verkünden: „Mein Bruder erschlägt mich!“ Harald wirtschaftete in der Küche herum und reichte dem Übernächtigten einen Kaffee. „Welcher Schaden denn?“, fragte er jetzt. Er zündete den Gasherd an und gab Butter in die Pfanne. „Sie haben Ihre PIN-Nummer nicht mehr gewusst, da habe ich Ihre Zeche bezahlt, 57 Euro, das ist schon alles, wirklich.“ Aus dem Kühlschrank holte er eine Speckseite und sechs Eier. „Ich hab´ Ihnen im Bad ein paar Sachen hingelegt, wenn Sie sich ein bisschen frisch machen wollen. Frühstück gibt’s in zehn Minuten.“
„Ich kann Ihnen nicht länger zur Last fallen.“ „Aber woher denn? Jetzt gehen Sie schon!“ Andy Rossthaler sah frisch gewaschen und rasiert mit geputzten Zähnen und nass zurückgekämmtem Haar gleich viel besser aus, auch wenn er ein altes schwarzes T-Shirt von Harald und eine graue Jogginghose trug, er setzte sich zögernd auf die Eckbank. Harald schüttete ihm Rührei aus der Pfanne auf den Teller. Und Andy, die Hand auf dem Magen, als würde er seiner Gesundheit noch nicht recht trauen, aß probeweise ein paar Bissen, aber mit der Zeit wurde er mutiger und aß unbekümmert drauf los. „Vielen, vielen Dank!“ „Aber für gar nichts! Sonst muss ich immer allein essen.“

„Ich muss dann aber gleich gehen. Mein Bruder schlägt mich tot.“

„Ich kenne Ihren Bruder nicht“, meinte Harald. „Ist es seine Angewohnheit, Leute zu erschlagen?“

„Nur mich manchmal. Er ist verzweifelt, weil ich so bin.“

„Wie sind Sie denn?“

„Ach, furchtbar! Ich bin einfach furchtbar: Unzuverlässig, empfindlich, versoffen, eine lasche Pflaume, echt und eigentlich wollte ich das alles nie machen: Singen, auftreten, Songs schreiben, Foto-Termine, Autogrammstunden, ich will nur noch meine Ruhe, wissen Sie, einmal ein paar Tage allein sein… ich will stundenlang in einer stillen, dunklen Kirche sitzen, glauben Sie an Gott?“

„Ja“, meinte Harald. Er sah ihn an, als wäre Alleinsein-Wollen ein ganz natürliches, tief nachvollziehbares Bedürfnis, aber er fragte nicht weiter. Am Rande bemerkte er, dass er Andy einfach reden ließ und selbst dafür Brote strich, er bestrich Bauernbrotscheiben mit Butter, Marmelade und Honig, die er Andy hinüberreichte, der sie umstandslos verputzte; er presste ein Netz Orangen aus und reichte ihm ein randvolles Glas und danach den Krug hinüber, er öffnete eine Blechdose mit Lebkuchen. „Probieren Sie, Paulina hat sie selbst gebacken.“ „Ist Paulina Ihre Enkelin?“ „Nein, meine… äh… Schwiegertochter.“ Auch Andy fragte nicht weiter. Nachdem er sich zwei Stunden lang alles Unglück von der Rockstarseele geredet hatte, wusste er immer noch nicht Haralds Namen. Am frühen Nachmittag ging Andy weg, er sagte, er wollte in eine Kirche. Harald empfahl ihm die nahe gelegene Nikolai-Kirche, die wäre immer offen und normalerweise wäre da kein Mensch. Andy sah ihn an, als er in der Tür stand: „Wie heißt du, Mann?“ „Harald Herbholz, Pensionist“, erwiderte Harald. „Sag einfach Harald zu mir wie alle.“ „Okay, Harald, also es ist mir furchtbar peinlich, aber ich wollte fragen, dürfte ich später noch mal zurückkommen? Ich brauche so dringend ein paar Tage, an denen mich keiner findet, nur mal so lange beten wie ich will… Seit Jahren wünsche ich mir nichts so sehr wie eine Zeit lang in einem Kloster zu leben: Eine Seligkeit müsste das sein.“ Harald betrachtete ihn verwundert. Das war weder die Sprache noch das Benehmen noch der Inhalt eines Rockstars, aber was war denn typisch für einen Rockstar? Das, was sie auf der Bühne abzogen?
„Klar, Andy“, erwiderte er. „Komm zurück, wenn du mit der Kirche fertig bist. Einfach klopfen oder klingeln, ich bin daheim.“ Harald sah noch aus dem Küchenfenster, wie Andy vorbeiging, er hatte die Kapuze seines Pullovers über den Kopf gezogen, den Kragen der Jacke hochgeschlagen und ging mit raschen Schritten davon. Wie alt mochte er sein? Irgendetwas zwischen 25 und 35 Jahren? Es war schwer zu schätzen. Harald war so, als ob es diesem Menschen bitter schlecht ging.

Und dafür fiel ihm im Augenblick kein anderer Grund als Andys tyrannischer Bruder ein. Er kam sich beinahe degoutant vor, als er, sofort nachdem Andy das Haus verlassen hatte, sein Notebook aufklappte und unter „Google“ „Andreas Rossthaler“ eingab. Heimatland!
37 Seiten Einträge! Unter Wikipedia stand, dass Andreas Rossthaler der Bruder des Band-Gründers Thomas Rossthaler, Bandmitglied der Super-Band „Rossignol“ mit zwei „S“, offenbar an „Rossthaler“ angelehnt war. Die Eltern der Rossthaler Brüder waren Dirigent und Opernsängerin gewesen, der Vater war tot, an einem Schlaganfall gestorben, und die Mutter, an schwerer Demenz erkrankt, lebte im Heim. Besonders der 12 Jahre jüngere Andreas galt in Fachkreisen als musikalisches Genie erster Ordnung, manche Musikkritiker hatten ihn schon mit Paul Simon oder Paul McCartney verglichen. Legendär waren seine Einlagen mit einer „Okarina“, einer kleinen Ton-Flöte, die nur in einem ganz bestimmten Tiroler Tal hergestellt wurde und der Andy Melodien mitten in den wildesten, stampfendsten Rockballaden entlockte, die die Fans abheben ließen. Aber er spielte auch Marimba, Harfe, E-Geige, es gab nur wenige Instrumente, die er nicht spielte außer Schlagzeug. Andy hatte die meisten Lieder der Band geschrieben, an den anderen profund mitgewirkt und der Band erst zu ihrer musikalisch unverwechselbaren Identität verholfen. Die Kehrseite war wohl, dass Andy nicht recht belastbar war, so war er schon öfters während eines Konzerts einfach umgekippt und man hatte ihn hinausschaffen müssen. Manchmal fiel es Andy ein, auf offener Bühne mit seinem Bruder zu diskutieren, wie man was zu spielen hätte, der das überhaupt nicht lustig fand. „Setz dich dahinten auf deinen Arsch und halt´s Maul!“, war noch das freundlichste, was daraufhin zurückkam, worauf Andy für den Rest des Konzerts vor dem Keyboard saß und die Fans auf seine schöne Stimme verzichten mussten. Manche meinten, das wäre alles bloß Show, ein bisschen Krachschlagen für die Zuschauer, würde eben zur Performance gehören. Andere nannten das Verhältnis der Brüder, ja der Bandmitglieder untereinander insgesamt angespannt. Aha, Harald klappte das Notebook zu. Auch auf ihn hatte Andy so gewirkt, als hätte er schwer lädierte Nerven.

Mit einem Kaffee setzte sich Harald ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Er wollte schon wieder ausschalten, denn er konnte den Namen „Trump“ nicht mehr hören, andererseits wollte er die Wettervorhersage abwarten, ob es morgen, wenn er zum Arzt musste, Glatteis geben würde oder nicht, da riss ihn ein Bild fast vom Sitz hoch:

„Im Zusammenhang mit dem Mord an der 29-jährigen Nicole Seelmann wird dringend der Rockmusiker Andreas Rossthaler gesucht. Hinweise bitte an das Polizeipräsidium Bischofsgrün oder jede andere Polizeidienststelle…“. Harald schaltete den Fernseher aus und ging im Wohnzimmer herum. Seine Gedanken überschlugen sich. –

Harald wusste genau, dass er jetzt augenblicklich den Kriminalkommissar Andreas Anders anrufen sollte, um zu melden, dass Andy Rossthaler bei ihm war, dann würden sie kommen, auf Andy warten, bis er von der Kirche zurückkam, ihn aufs Präsidium mitnehmen und das wäre es dann. Aber das wollte er nicht. Er wollte, dass Andy diese drei Tage Ruhe, nach denen er sich so dringend sehnte, bekam. Aber vielleicht sehnte er sich ja gar nicht nach Ruhe, vielleicht brauchte er keine Zeit, um zu beten, sondern ein Versteck, vielleicht war er gar nicht in die Kirche gegangen, sondern ganz woanders hin…

Um halb fünf war es schon dunkel, um 16.40 Uhr war Andy wieder da. Er drückte Harald eine Tüte in die Hand. „Ich war beim Metzger und habe ein paar Steaks besorgt und drei Flaschen Wein, roter, ist das recht?“ „Ja, danke“, murmelte Harald. „Ich dachte, du wolltest in die Kirche?“ „War ich vorher, wie du gesagt hast: Es war kein Mensch dort. Die Marienfigur am Altar sieht aus wie altes Elfenbein.“ „Ja“, erwiderte Harald. „Ist es auch. Ewig alt.“ Okay, er war also wirklich dort gewesen. Harald briet die Steaks und Bratkartoffeln und stellte einen grünen Salat dazu. Andy futterte unbefangen drauf los, später hielt er sich lange an dem Weinglas fest, mehr als ein Glas wollte er nicht trinken. Zunehmend wortkarger verlangte er eine Bibel, bekam sie und verschwand in der kleinen Abstellkammer, als wollte er sich aus dem Weg räumen. Wenn Andy doch wusste, dass er gesucht wurde, warum war er dann in den Metzgerladen gegangen, wo man ihn hätte erkennen können? Vielleicht wusste Andy nicht, dass er gesucht wurde. Vielleicht war das alles ja eine seltsame Verwechslung, ein Missverständnis und der Rockmusiker mit den angegriffenen Nerven, suchte tatsächlich nur das, was er sagte: Seine Ruhe. –

Am nächsten Nachmittag um 15.15 Uhr schneite buchstäblich Poppy herein, sie klingelte Sturm und stand schon im Wohnzimmer. „Meine Güte, nur noch 20 Minuten zum Umziehen, Hallihallo, Onkel Harald!“ Poppy umarmte ihn hektisch, auf ihrem dunklen Haar schmolzen die Schneeflocken. Harald deutete auf Andy und meinte: „Das da ist der Andy, ein Freund aus der Kneipe, spielt Musik und das ist Poppy…“ „Hallo,“ kürzte Poppy die Sache ab, nachdem sie kurz zu Andy hinübergelächelt hatte. „Sag bloß, Onkel Harald, du hast es vergessen?!“ „Vergessen? Was denn?“ „Dass Alexander und Dieter uns in einer halben Stunde zum Weihnachtsmarkt-Event abholen. Hast du das Kostüm noch nicht herausgesucht?“ Da fiel es ihm siedend heiß wieder ein. Am Samstag vor dem 2. Advent veranstalteten Alexander und Dietrich von Stieglitz zusammen mit Poppy, der Oma und ihm ein gewaltiges Gulasch-Essen auf dem Hauptmarkt, wo der Weihnachtsmarkt aufgebaut war, direkt vor dem Venusbrunnen, wo sie an alle bedürftigen Unmengen an Gulasch und Glühwein austeilten. Die Sache war groß in der Zeitung angekündigt worden und Harald wollte einen Besen fressen, wenn sich dafür nur Bedürftige anstellten, denn das Gulasch war ein Gourmetessen erster Güte. Die Geschwister hatten es bei der Metzgerei Standfest kochen lassen und selbst probiert. Poppy hatte in ihrer Begeisterung gleich ihren ganzen Friseursalon eingeladen mit den Worten: „Sowas Gutes habt ihr noch nicht gegessen!“ Zu diesem Event wollten sich die Geschwister als Weihnachtsmänner verkleiden. Die Männer, mit einer gewissen Scheu vor Übertreibungen, wollten es bei einer Weihnachtsmannmütze belassen, aber Poppy wollte sich Ganzkörper kostümieren. Dazu wollte sie sich von Harald sein Kostüm ausleihen, das er noch hatte aus seiner Zeit als Gerichtspräsident, wo er auch, nolens, volens, um einige Auftritte als Weihnachtsmann nicht herumgekommen war. Zehn Minuten später bohrte Harald ein zusätzliches Loch in den weißen Lackgürtel, damit er eng genug um Poppys Taille saß. Der Mantel war ihr natürlich zu groß, aber sie sah sehr putzig darin aus. „Außerdem haben wir tausend Semmeln bestellt, die wird die Oma austeilen und 200 Hilfspakete mit Decken und Thermoskannen und Mengen an Glühwein und der große Süßigkeiten-Stand „Rainer und Herz“ brennt heute Mandeln nur für uns…“, erzählte sie, während sie die Hosenbeine in die Stiefel stopfte und meinte zu Andy: „Komm doch auch mit!“ „Ich kann nicht“, wehrte Andy ab. „Ich hatte Erkältung und muss drinnen bleiben.“ Es bimmelte schon wieder und Alexander stand auf dem Fußabstreifer. „Ich hab Dieter und die Oma im Auto, stehe im Halteverbot, seid ihr fertig?“ Harald schaffte es gerade noch Schlüssel und Geldbeutel einzustecken, dann rannte er den Geschwistern hinterher den Flur entlang. Er merkte nur noch, dass Andy „Bis später!“ gerufen hatte und die Tür hinter ihm schloss. –

Der Umsonst-Stand der Stieglitz-Werke auf dem Weihnachtsmarkt war die große Attraktion. Viele, die nicht bedürftig waren, wollten das sensationelle Gulasch kosten. Poppy hatte geistesgegenwärtig einen Brotkorb ausgeschüttet, mit einer Serviette ausgepolstert und nahm ordentlich Spenden ein. „Wofür sammeln Sie denn, junge Frau?“ „Für die Armen“, antwortete Poppy. „Welche Armen?“ „Alle Armen“ „Ach so, ich dachte schon für Obdachlose! Die haben nämlich alle mehr Geld als ich.“ Poppy sah auf. „Name und Adresse!“, forderte sie, während sie dem gutgekleideten Mittvierziger eine Portion Gulasch abfüllte. „Äh, wieso?“, stotterte dieser. „Mein Bruder Dietrich ist Anwalt, wissen Sie, der wird Sie gebührenbefreit zum Sozialamt begleiten. Man hat Ihnen offenbar zu wenig ausgezahlt.“ Der Mann sah sich verunsichert um, ob wohl einer seiner Bekannten dieses Gespräch mitgehört hätte, dann legte er ganz ohne dämlichen Kommentar 20 Euro in den Spendenkorb. „Vergelt´s Gott!“, lächelte Poppy und Alexander warf ihr einen anerkennenden Blick zu. Poppys Großmutter sah aus wie immer, fand Harald, nur trug sie heute feste, gefütterte Lederstiefel zu dem schwarzen Wollmantel und eine sehr kleidsame Mütze aus schwarzem Mohair mit einem Rand aus weißen Schwanenflaum. Das musste Poppy ihr gekauft haben. Die alte Frau saß auf einem Holzhocker und reichte den Leuten, die um Gulasch anstanden, Brötchen und Laugenstangen aus zwei überdimensionalen Waschkörben. Aber als Harald das nächste Mal zu ihr hinübersah, hatte die Oma die Hand einer jungen Frau mit zwei kleinen Kindern umgedreht und sprach beruhigend auf sie ein. Auch die Oma nahm ordentlich Spenden ein. Alexander guckte zweifelnd zu ihr hinüber und schüttelte den Kopf über die lange Schlange an Leuten, die sich aus der Hand lesen lassen wollten. Man war schon bei Glühwein und gebrannten Mandeln angekommen, als Andreas Anders an den Stand kam. „Ja, Harald, wie geht’s dir? Gut schaut ihr aus! Wie die Weihnachtsmänner! Und ich bin heute wieder ewig nicht aus der Arbeit weggekommen! Habt ihr noch einen ganz kleinen Rest von dem herrlichen Gulasch übrig? „Jawohl!“, Poppy füllte ihm eine kleine Steingutschüssel Gulasch ab, reichte ihm Serviette und Löffel dazu. „Weckle gibt’s dort drüben. Sie müssen sie sich selbst nehmen, die Oma ist beschäftigt.“ Dann legte sie die Schöpfkelle hin, um der Oma einen Glühwein zu bringen und sie zu einer Pause zu überreden.
Harald und Andreas Anders nahmen auf einer Bierbank vor dem Stand Platz. „Na, wie geht es denn so in der Arbeit?“, fragte Harald. „Frage nicht!“, stöhnte Andreas Anders. „Du hast es ja bestimmt in der Zeitung gelesen: Der Mord an Nicole Seelmann, 29 Jahre alt, es ist eine Schande! Sie war die Frau des Juniorchefs vom Hotel Seelmann, eine moderne, aufgeschlossenen Frau, die auch kein Blatt vor den Mund nahm, sehr beliebt und plötzlich liegt sie da im Gang ihres Hotels mit eingeschlagenem Schädel, nicht lustig, wirklich nicht…“ „Und der Ehemann?“, fragte Harald vorsichtig. „Der war in Köln, Alibi für die Zeit doppelt und dreifach bestätigt, er hat dort über neue Möbel verhandelt und ist, seitdem seine Frau tot ist, am Ende seiner Seele. Die alten Seelmanns haben auch nichts gehört und nichts gesehen. Der Alte will sich vom Geschäft zurückziehen. Inzwischen hat der Junge, Jonas Seelmann die Geschäftsführung übernommen, ein erstklassiges Hotel, gehört der Familie in der dritten Generation, schuldenfrei.“ Andreas seufzte, die Stirn in Falten. „Und jetzt sind in eben diesem Hotel die Musiker der Band „Rossignol“ abgestiegen und wir mussten sie, sowie auch alle Gäste und Angestellten um eine DNA-Probe bitten, Routine-Angelegenheit. Also die fünf Bandmitglieder, der Tour Manager, der Agent, drei Hintergrundmusiker und die Aufbauhilfen, Saisonarbeiter aus dem Ort hier sitzen im Konferenzsaal, wo Adrian Lerch und Karl Ingelsdorf mit den Leuten reden. Keiner will etwas gehört oder gesehen haben. In dem Moment, in dem Adrian Lerch die Proben nehmen will und seinen Koffer aufklappt, meint dieser Andy Rossthaler, dass er aufs Klo muss und ist seither nicht mehr gesehen worden. Verdächtiger geht’s ja nicht. Seitdem kaut mir sein Bruder Tommy Rossthaler ein Ohr ab, dass es sein Bruder nicht gewesen ist, kann gar nicht sein, dieser liebe Mensch könnte keiner Fliege was zu Leide tun, bis ich ihn und seine Anwälte endgültig hinausgeschoben habe. Ich bitte dich: Es ist ja lachhaft: Wenn keiner da ist, können sie ihn auch nicht vertreten. Sobald einer volljährig ist, muss er selbst das Mandat erteilen und nicht sein BRUDER! Grundgütiger Himmel! Wenn der noch einmal im Polizeipräsidium auftaucht, erteile ich ihm Hausverbot, jawohl!“ Ärgerlich tauchte Andreas die Laugenstange in das Gulasch. „Jetzt iss mal, sonst wird es kalt“, meinte Harald und überlegte: „Aber kann es nicht sein, dass der Bruder des Verdächtigen Recht hat? Nur mal angenommen, dieser Andy Rossthaler wäre aus einem anderen Grund abgehauen als dem, dass er Nicole Seelmann umgebracht hat?“ „So?“, Andreas wischte sich den Mund mit der Serviette ab. „Und welcher Grund sollte das sein?“ „Naja, vielleicht ist er übersensibel, vielleicht hat er ganz grundsätzlich vor DNA-Tests Angst.“ Andreas sah Harald plötzlich unvermittelt an. „Allerdings“, meinte er langsam. „Wenn einer vor einem Wattestäbchen Angst hat, muss er wirklich zart besaitet sein“ –

Alexander von Stieglitz hatte am Ende das Mikrophon in der Hand, dankte allen freiwilligen Helfern und wünschte seiner Kundschaft und allen Besuchern eine gesegnete Adventszeit, als ihm Poppy das Mikrophon aus der Hand nahm. „Alle alleinerziehenden Mütter und Väter mit Kindern, bitte vortreten! Wir haben eine extra Überraschung!“ Und tatsächlich sammelte sich ein kleines Grüppchen in Erwartung eines Schokoladennikolauses oder eines Pakets Lebkuchen. Poppy kniete sich gerade zu einem 5-jährigen Jungen herunter, um ihn zu seinen Weihnachtswünschen zu interviewen. Er wollte ein Paar Turnschuhe und ein Federmäppchen mit Captain Star Snyper drauf. Poppy sah die Mutter an, die Sorge in den blassblauen Augen, die Schuhe mit den schadhaften Absätzen und das 2-jährige Mädchen im Kinderwagen. Poppy griff tief in den ersten Spendenkorb, die Scheine knisterten. „Nein, nein“, wehrte die Mutter ab. „Das kann ich nicht annehmen!“ „Es ist doch für die Kinder“, erwiderte Poppy seelenruhig. „Ach, dann, danke, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Vorhin hat mir diese liebe Dame aus der Hand gelesen und gesagt, heute ist ein Glückstag.“ „Genau“, bestätigte Poppy, „ist auch so“ und nahm noch einmal eine Handvoll Scheine heraus. Alexander und Dieter betrachteten Poppy mit stillem Einverständnis, während sie die letzten Flaschen Glühwein als Not-Proviant einigen Obdachlosen aushändigten und einem älteren Mann fünf Semmeln in die Einkaufstasche schütteten, der sie darum bat. „Diese Handschuhe“, fragte der Alte. „Gehören die jemandem?“ „Ja, die gehören…“, fing Dieter an. „Niemandem“, ergänzte Alexander. „Sie können sie haben. Viel Freude damit!“ „Dankeschön!“ Zufrieden zog er damit ab. „Einmal im Jahr“, philosophierte Alexander. „Krieg ich mein Geld los.“ „Und jetzt kannst du dir neue Handschuhe kaufen“, meinte Dieter. „Was spielt denn das für eine Rolle?“ Auch Andreas Anders hatte sich verabschiedet, Harald brachte ihn zum Wagen. „Dieser Andy Rossthaler, hab ich gehört, ist sehr religiös, fast fanatisch, wenn man das so sagen kann – und Nicole Seelmann hatte eine freche Klappe“, fing Andreas Anders an. „Hältst du es für möglich, dass diese junge Frau etwas gegen den Glauben gesagt hat, dass es zum Streit gekommen ist?“ „Ich weiß nicht“, erwiderte Harald. „Aber wenn sie unglücklich gefallen ist, warum hat er ihr dann noch den Schädel mit einer Rotweinflasche eingeschlagen, als sie schon am Boden lag?“ „Hast Recht“. Andreas Anders holte die Autoschlüssel heraus, denn sie standen jetzt vor seinem Wagen. „Es handelt sich um eiskalten Mord und nichts anderes. Gute Nacht, Harald!“ „Gute Nacht, Andreas!“ –

Am nächsten Morgen war gerade der Kaffee fertig, als es klingelte und Poppy hereinkam. „Onkel Harald! Habe ich gestern meine Halskette mit dem Medaillon hier vergessen? Ich hab gar nicht viel Zeit, in 20 Minuten fährt mein Zug, ich muss in die Arbeit…“ Harald sah sich im Wohnzimmer um, entdeckte die Kette und gab sie ihr. „Wenn in 20 Minuten der Zug fährt, hast du doch noch Zeit für einen Kaffee.“ „Ist dein Freund, dieser Musiker noch da?“ „Im Bad.“ „Ach so.“ Poppy nahm auf der Eckbank Platz. „Immer komme ich zu früh oder zu spät, es ist schon jedes Mal dasselbe, aber mach das mal richtig – bei dem Wetter verspäten sich die Züge, manche fallen gleich ganz aus. Alexander sagt, ich soll diese Arbeit aufgeben, ich hätte es doch gar nicht nötig, aber ich will nicht. Mir gefällt es da. Alle meine Freundinnen arbeiten dort.“ Sie biss in das Butterhörnchen und schraubte die Pfirsichmarmelade auf. „Sag, hast du das von Nicole Seelmann gehört?“, fragte sie plötzlich und sah Harald an. „Ja“, antwortete er. „Eine furchtbare Geschichte!“, stöhnte Poppy. „Nicole war eine ganz liebe Kundin von uns, wir haben alle „du“ zu ihr gesagt, die war nicht so von oben herab wie manche anderen, die bloß zu uns kommen, weil wir gerade In sind. Nicole wusste unsere Arbeit wirklich zu schätzen, sie hat uns geachtet, verstehst du?“ „Und die Ehe mit ihrem Mann?“ „Riesig glücklich!“, schwärmte Poppy. „Der hat sie verehrt, aber wirklich. Und gerade jetzt, weißt du, sie konnten keine Kinder bekommen, jetzt ist erst vor ein paar Tagen die Adoption bewilligt worden. Nicole und Jonas waren vor Freude fast verrückt. Sie haben einen kleinen Jungen zugesprochen bekommen…“ Poppy zog ihr Smartphone heraus und zeigte Harald ein Bild. „Das ist er! Sieht er nicht goldig aus?“ Harald betrachtete das Baby, das ihm auf dem Foto milchkaffeebraun vorkam. „Aus Afrika?“, fragte er. „Wie heißt er?“ „Rico“, erwiderte Poppy. „Danke, Onkel Harald, ich muss gehen.“ Sie umarmte ihn. „Und die Oma hat heute Nacht irgendwas von einem falschen Pferd und einer Gefahr geträumt… hast du was mit einem falschen Pferd zu tun?“ Harald schüttelte den Kopf und Poppy stürmte nach einem alarmierten Blick auf die Uhr hinaus. Ein falsches Pferd. Nein. Aber plötzlich dachte er an Andy Rossthalers Ring, dessen Münzoberfläche einen Pferdekopf zeigte. Seltsam. –

Was ist mit mir los, fragte sich Harald beim Frühstück. Andy saß ihm gegenüber und gab lustige Anekdoten aus seinen vielen Tourneen von sich, futterte Nusshörnchen und sah zur Abwechslung einmal wie ein einigermaßen glücklicher Mensch aus. „Ich wollte, du könntest bleiben“, rutschte es Harald ganz gegen seinen Willen heraus. Oh, nein, wie furchtbar peinlich! Ein einsamer, alter Mann, der auch noch laut dachte! Aber Andys Blick fiel in ihn hinein wie der Klang einer großen Glocke in die Lautlosigkeit. „Das will ich auch, Mann!“, erwiderte Andy spontan. „Ich wollte… ich könnte immer bleiben, ich war seit Jahren nicht mehr so sehr ich selbst wie in den letzten Tagen. Wenn sich das irgendwie machen lässt, komm ich zu dir. Ich weiß echt nichts von deinem Leben, aber mir ist als ob… als ob…“, er stotterte vor Verlegenheit. „Als ob wir uns schon ewig kennen.“ Harald nickte. Ja, so war es. Und knapp unter der Oberfläche der hellen Begeisterung, dass Andy auch so empfand, bohrte der fürchterliche Verdacht, dass er gerade einen alten Fehler wiederholte. Aus Einsamkeit, aus der Sehnsucht nach Gemeinschaft wollte er die Tatsachen nicht sehen und war solidarisch mit einem Menschen, der das ganz und gar nicht verdient hatte. Und dass mit Andy etwas nicht stimmte, sah ein Blinder, es war viel offensichtlicher als bei Peter. Warum lief Andy vor den DNA-Test davon, warum kaufte Andy Rotwein, mit einer Rotweinflasche war Nicole erschlagen worden, warum rannte Andy dauernd in die Kirche, wofür wollte er um Vergebung bitten? Ja, sogar die Oma hatte von einem falschen Pferd geträumt. Und die Oma irrte sich nie. Harald wusste, dass er Kommissar Anders anrufen sollte und nichts sonst. Aber er konnte nicht und wollte es auch nicht.

„Die Band“, erzählte Andy jetzt, „Ist nicht GANZ schlecht. Spikey ist ein guter Drummer, gibt’s nichts. Nicht sehr gut, aber gut, das reicht für unsere Bedürfnisse. Er hat den Rhythmus im Blut, auch ein gutes Gefühl für Lautstärken. Mick spielt alles an Gitarren, was wir brauchen und singt ein bisschen, Rudy spielt Bass und macht uns die Styles und leitet das Orchester bei den großen Auftritten. Happig wird’s eigentlich erst, wenn sie einen Song schreiben.“ Andy lächelte schief. „Es ist ja nicht alles schlecht, wirklich nicht, der Text geht im Allgemeinen durch, aber dann: Die Melodie, die gesamte Komposition…“, er grinste verschämt in seinen Kaffee. „…manchmal fehlt echt nicht viel, damit aus einem mittelmäßigen Sample was richtig Gutes wird, aber da, wo es fehlt, fehlt es gewaltig.“ Er versuchte ein nachsichtiges Lächeln. „Und du hast es?“, fragte Harald. „Das, was fehlt?“ Andy nickte. „Hm hm. Tommy sagt es.“ „Was macht eigentlich dein Bruder bei der Band?“, erkundigte sich Harald. „Habe ich das nicht gesagt? Sänger, Bandleader, Frontman.“ Andy sah versonnen durch das Küchenfenster in den grauen Morgen hinaus. „Ich verdanke Tommy alles, er hat mir jeden Musikunterricht bezahlt, jedes Instrument gekauft, das ich haben wollte und wir hatten jahrelang überhaupt kein Geld. Für mich hat er immer ein Bett bezahlt, warme Kleidung und genug zu essen. Wo er geschlafen hat, will ich gar nicht wissen. Tommy denkt, dass ich ein musikalisches Genie bin, ich hätte das…“, er grinste, als ob ihm etwas furchtbar peinlich wäre. „…von unseren Eltern geerbt.“ „Glaubst du nicht an Vererbung?“ Andy zuckte die Schultern. „Aber nachdem Tommy das immer geglaubt hat, verstehst du, musste ich ihm doch etwas zurückgeben für all seine Hoffnungen und mich ein bisschen anstrengen, nicht?“ „Ja, aber“, wandte Harald ein. „Auch mit viel Anstrengung kriegen viele Musiker keine solchen Kompositionen hin wie du. Steht wenigstens im Internet. Ist das nicht von dir: When I die?“ „Doch“, erwiderte Andy. „Das schon. Was ist schon dabei? Das war ein Nachmittag im Wohnwagen, an dem ich es einfach mal herausschreien wollte, wie es mir wirklich geht. Es ist typisch für die Welt, dass sie das ein Meisterwerk nennt. Dass sie das schon für toll halten sagt nur, dass sie nichts wissen, noch nie was Tolles gehört haben, sie haben einfach NICHTS: Keine musikalische Erziehung, kein wirkliches Erleben, kein Gehör – sie kommen daher, ahnungslos wie die Suppenhühner und dann finden sie uns toll.“ „Was hältst denn du für gut?“, wollte Harald wissen. „Vielleicht gregorianische Kirchenmusik?“ Andy lächelte. „Naja, das wäre wenigstens mal ein Anfang. Ich bräuchte Zeit, nichts so sehr wie Zeit, um etwas halbwegs Vernünftiges zu schreiben. Aber Tommy hetzt uns von Tournee zu Tournee, bis wir fast tot umfallen und natürlich geht es ums Geld.“ „Wieso?“, erkundigte sich Harald. „Ihr seid doch sehr erfolgreich. Habt ihr nichts auf der hohen Kante?“ „Keine Ahnung“, Andy drehte den Kopf weg. „Hab mich nie darum gekümmert.“ –

Bischofsgrün war sehr stolz auf seinen Schachclub und der Schachclub, der viele prominente Mitglieder hatte, war sehr stolz auf sich. Er residierte im Burgrestaurant, wo er das geräumige Turmzimmer dauergemietet hatte. Auch an diesem Montag nach dem zweiten Advent, waren die Spieltische gut besucht und auch das Gourmet-Restaurant erfreute sich großer Beliebtheit. Harald, der eigentlich nicht auffallen wollte, registrierte, dass bei seinem Erscheinen alle möglichen Herrschaften aufsprangen und ihn herzlich begrüßten. Harald wanderte in den Clubraum hinüber und sah erleichtert, dass Andreas Anders da war. Er spielte gegen einen viel jüngeren Gegner. Als er Harald bemerkte, stand er auf und schüttelte ihm die Hand. „Harald, das ist Stefan Zinsheim, der aufstrebende Stern des Clubs, dürfte mich gleich zum dritten Mal besiegt haben. Nimm doch so lange einen Cognac an der Bar. Hast du Zeit für ein Abendessen?“

Als sie später am Tisch saßen, fing Harald an, damit herauszurücken, warum er gekommen war. „Da ist etwas, das hat mit deinem Fall zu tun, das muss ich mir von der Leber reden. Poppy hat mir heute früh erzählt, dass Nicole Seelmann eine Kundin von ihr im Friseursalon war. Die Ehe wäre sehr glücklich gewesen. Nicole und ihr Mann hätten die Zusage bekommen, einen kleinen Jungen zu adoptieren.“ „Ja“, meinte Andreas. „Ich kenne die Seelmanns, anständige Leute. Der Albert war im Stadtrat, Kirchenvorstand, hat viel für die Stadt getan, der Sohn natürlich bei der Freiwilligen Feuerwehr, was eben so dazu gehört.“ „Aber das Bild von dem Baby“, Harald zögerte. „Es ist ein Mischlingskind.“ „Na, jetzt sag mal!“, rief Andreas Anders lauter, als er wollte. „Ich weiß, du darfst nicht über deinen Fall reden“, lenkte Harald ein. „Aber WENN das so ist, wie ich vermute…“, er atmete schwer. „Ich meine nur, wenn du das Ergebnis des DNA-Tests schon hättest, dann müsste nämlich gar nichts herausgekommen sein, das heißt, dass man an Nicole gar keine fremde DNA gefunden hat, also nur die ihres Mannes, Schwiegervaters und ihrer Schwiegermutter. Das würde bedeuten, dass es der gesuchte Andy Rossthaler so gut wie jeder andere gewesen sein kann oder eben, dass Nicole von einem ihrer nächsten Angehörigen umgebracht worden ist.“ Andreas brauchte etwas Zeit, um sich zu fassen. „Das, was du da sagst, ist ungeheuerlich!“, protestierte er. „Ich kenne Albert und Anita seit vielen Jahren, nettere Leute gibts gar nicht. Es war bestimmt dieser Rockmusiker, der bis obenhin mit Drogen vollgestopft war…“. „Woher weißt du das, dass er Drogen genommen hat, Andreas?“ „Ach, das nehmen die doch alle!“ „Klar!“, stimmte Harald ironisch zu. „Logisch, gell?! Außerdem ist er nicht von hier, ein Fremder, der muss der Mörder sein, klare Sache!“ Es entstand eine ungemütliche Stille, in die hinein sie der Ober fragte, ob sie schon gewählt hätten. Kommissar Anders bestellte eine Vorspeisenplatte und Variationen von der Flugente für zwei. „Oder hättest du was Anderes gewollt?“, fragte er, als der Ober wieder weg war. „Aber nein, ich verlasse mich auf dein Urteil, du bist hier daheim.“ „Immerhin“, meinte Andreas. „…hat sich dieser Rossthaler dem DNA-Test entzogen“. „Ja, aber nur mal angenommen, das hätte, so unwahrscheinlich es sich auch anhört, noch einen anderen Grund als den, dass er Nicole Seelmann ermordet hat? Sieh mal, er hat doch gar kein Motiv, das ist ein Star, Andreas, der kann jede Menge junger Mädchen haben, wenn er will…“ „Und ein Sexualdelikt haben wir ja bereits ausgeschlossen“, überlegte Andreas. „Genau“, stimmte Harald zu. „Wenn man mit den üblichen Methoden nicht weiterkommt, muss man sich etwas einfallen lassen. Ist doch so? Weißt du“, flüsterte Harald und neigte sich nahe zu Kommissar Anders hinüber. „Ich hätte da nämlich schon eine Idee.“ –

Andy Rossthaler saß in dieser Nacht in der nur von wenigen Kerzen erleuchteten Nikolaikirche. Er betrachtete die Elfenbeinstatue der Mutter Gottes in tiefer Sehnsucht. Er wollte so gerne wiederkommen, immer wieder, wenn alles vorbei war, wenn er dann noch am Leben und bei Gesundheit war, wollte er so gerne wiederkommen. Er spürte, dass die größte Katastrophe seines Lebens mit unaufhaltsamer Macht auf ihn zurollte. Er konnte sie nicht mehr aufhalten und wie viele Jahre war das sein einziges Sinnen und Trachten gewesen, diese Katastrophe aufzuhalten? Aber in den letzten Tagen, in denen er so lange von Tommy und der Band weg gewesen war wie niemals zuvor, hatte ihn eine fast unheimliche Gleichgültigkeit erreicht, eine beinahe einverstandene Ruhe mit allem, was kommen musste. Es ging einfach nicht mehr. Er war am Ende seines Weges angelangt. Wenn Tommy ihn umbrächte, das wäre sein verdammtes Recht, dann würde er eben sterben und zu Gott gehen. Dass Gott trotz all dem die Liebe war, das glaubte Andy auch in dieser dunkelsten Stunde seines Lebens. Er wunderte sich sehr, dass er das glauben konnte, dass er nicht vor Verzweiflung irr wurde und deswegen, so komisch es sich anfühlte, war diese Stunde plötzlich gar nicht mehr so dunkel. Im Gegenteil, in einem tiefen Gefühl der Freude und Geborgenheit spürte er, dass alles um ihn herum immer heller wurde. Ja, in dem ehemals dunkeldämmrigen Raum hätte er sogar lesen können, so hell war es geworden. Mit der Hand umschloss er das schwere Kreuz aus Gold, das er immer trug. Tommy hatte es ihm geschenkt. Und ihm war nicht mehr, als müsste er endlich eine Heldentat begehen, sondern, als würde sie für ihn begangen. –
Albert Seelmann war groß und schlank. Obwohl er die 75 schon erreicht hatte, kam er nicht nur rasch, sondern gerade und schwungvoll die Treppe seines Hotels hinunter, als er hörte, dass Kommissar Anders in der Halle auf ihn wartete. Er begrüßte ihn herzlicher als die meisten anderen, da er ihn kannte und als Freund betrachtete. „Andreas, das ist ja schön! Gehen wir doch gleich in mein Büro! Ines, wir hätten gern zwei Wasser und zwei Kaffee.“ Die junge Dame am Empfang nickte und die Männer verschwanden in Albert Seelmanns holzgetäfeltem Büro, wo Albert, aus der Gewohnheit vieler Jahre hinter seinem Schreibtisch Platz nahm, während Andreas der Besuchersessel zugewiesen wurde. „Wie geht’s Anita?“, fragte Andreas und Albert schüttelte den Kopf. „Es hat sie sehr mitgenommen, uns alle, ich bin froh, dass ich den normalen Betrieb nicht unterbrechen musste. Mein Sohn Rainer hat sich allerdings aus dem laufenden Geschäft im Moment zurückgezogen.“ „Die Ehe…“, fragte Andreas. „…soll sehr glücklich gewesen sein.“ „Von wem hast du das gehört?“, fragte Albert schnell. „Wieso?“, gab Andreas zurück. „Stimmt das etwa nicht?“ „Doch“, erwiderte Seelmann matt, er schien die Frage zu bereuen und sah vorsichtig über den Schreibtisch zu Andreas hinüber. „Ihr seid wohl immer noch nicht weiter?“, erkundigte er sich jetzt. „Nein, nicht so sehr“, gab Andreas zu. „Aber dieser Rocker, der vor dem DNA-Test abgehauen ist, der ist es doch gewesen!“ „Bist du sicher?“, wollte Andreas wissen. „Denn siehst du, wir haben eben gar kein Motiv für Andreas Rossthaler finden können, warum er Nicole hätte umbringen sollen. Wenn wir von ihm kein Geständnis kriegen, stehen wir schön blöd da. Und woher sollte ein Geständnis kommen? Erstens haben wir ihn ja gar nicht, er ist komplett vom Erdboden verschwunden und zweitens, warum sollte er etwas gestehen, wenn wir nichts gegen ihn in der Hand haben? Der Test hat jedenfalls nichts ergeben. Wir haben an Nicole Spuren von Rainer gefunden, von Anita und – dir.“ „Was… was soll das heißen?“, fuhr Albert auf. „Um Nicole eine Flasche über den Kopf zu schlagen, braucht man doch keine Spuren unter ihren Fingernägeln zu hinterlassen.“ „Nein, wenn vorher kein Kampf stattgefunden hat, nicht. Wir haben an ihr schon ein paar leichtere Hämatome gefunden, aber ob die von einem Kampf stammen, lässt sich nicht sagen. Es könnte Andy Rossthaler gewesen sein – aber sein dominanter Bruder, der mir dauernd die Türe einrennt, schwört Stein und Bein, dass er es nicht gewesen ist – oder jeder andere.“ „Ihr habt also noch gar nichts“, fasste Albert Seelmann zusammen. Andreas betrachtete ihn eine Weile mit seinem grauen Blick. „Eben“, meinte er.

Zur gleichen Zeit befand sich Harald Herbholz im Frühstücksraum des Hotels, wo die Rossignol-Band ratlos und zusammengesunken vor dem Frühstück, das sich keines großen Zuspruchs erfreute, zusammensaß. Es war nicht sehr schwer, Tommy Rossthaler zu erkennen. Tommy war groß und breit, schwarz gekleidet und sehr blass. Mondbleiches Haar umgab sein übermüdetes Gesicht. Schon auf den Internet-Bildern hatte er Harald stark an einen römischen Feldherrn erinnert und jetzt in natura verstärkte sich dieser Eindruck. Wenn man nicht gerade Harald war, wäre man nicht auf die Idee gekommen, ihn anzusprechen. „Entschuldigen Sie, haben Sie diesen Zettel hier verloren?“, fragte Harald und hielt ihm ein kleines, zusammengefaltetes Papier hin. „Nein, wieso?“ Tommy nahm den Zettel, faltete ihn auseinander und las. „Ihr Bruder lebt, es geht ihm gut“, stand darauf, wie Harald sehr wohl wusste. Tommy sprang auf wie von der Tarantel gestochen. „Wo haben Sie das her?“, verlangte er Antwort. „Es lag hier auf dem Fußboden, vielleicht wollen Sie etwas Luft schnappen mit mir…“ Tommy bellte dem Rest der Band ein: „Bin gleich wieder da!“ zu und zog Harald ungeduldig in den verschneiten Park hinaus. „Ich weiß, dass Sie in den letzten Tagen durch die Hölle gegangen sind“, fing Harald an. „Aber jetzt können diese vertrackten Dinge eine bessere Wendung nehmen, so Gott will und…“, er sah Tommy in die rotumrandeten Augen. „Und wenn Sie ein bisschen mithelfen.“ Die beiden Gestalten, ein großer Breiter und ein kleiner Gebückter, der das linke Bein etwas nachzog, gingen immer tiefer in den Park hinein, bis zu dem Steinpavillon, in dem sie sich auf eine kalte, aber trockene Bank setzten. Sie redeten lange, bis ein erneutes Schneegestöber einsetzte, das den Blick auf die beiden Silhouetten mit wirbelnden Schneeflocken verhüllte. –

Am Abend des gleichen Tages kam Andy Rossthaler höchstselbst ins Grandhotel und fragte leise, aber deutlich nach seinem Bruder. Er nannte zwar keinen Namen und hatte sich die schwarze Kapuze seines Pullovers tief ins Gesicht gezogen, aber er nahm auf einem Sessel Platz, als die junge Frau an der Rezeption ihn anwies zu warten. Sie telefonierte leise und etwas aufgeregt und versicherte ihm, man würde ihn sofort hinaufbringen. Tatsächlich kam auch eine Minute später Albert Seelmann durch die Empfangshalle und geleitete ihn zu einem Aufzug, für den er eine extra Karte herauszog. „So geht’s schneller“, versicherte er. Aber schon im Aufzug nahm er eine kleine Pistole aus der Tasche und richtete sie auf Andy. „Jesus Christus!“ stotterte dieser. „Was wollen Sie von mir?“ Albert Seelmann sagte nichts, sondern zwang ihn, im obersten Stockwerk auszusteigen. Sie gingen durch einen dunklen Gang auf den Dachboden. Seelmann zog sich Handschuhe an und Andy stand nur so da. Langsam begriff er, dass er gezwungen werden sollte, sich am Dachbalken aufzuhängen. „Herr, bleibe bei mir“, betete Andy „Denn es will Abend werden und der Tag…“ „Halts Maul!“, schrie Seelmann plötzlich. „… hat sich geneiget“, vollendete Andy. „Steig auf diesen Stuhl!“ Albert Seelmann fuchtelte mit der Pistole herum. „Glaub ich nicht, dass das hält“, meinte Andy. „Und Abschiedsbrief haben wir auch noch nicht. Das wäre doch besser, oder? Wenn Sie einen Abschiedsbrief von mir hätten, käme doch keiner mehr auf die Idee, dass Sie Ihre Schwiegertochter umgebracht haben, weil Sie kein afrikanisches Kind als Erben für Ihr tolles Hotel haben wollen, oder? Einfach umgebracht, eine gesunde, junge Frau, einfach umgebracht, ja?!“ „Sie hat mir das Bild von diesem Kaffer gezeigt“, schrie Seelmann, „Da ist es mit mir durchgegangen! Ich war so enttäuscht, das ganze Leben, die ganze Arbeit für nichts! Ich habe sie weggestoßen, sie ist gefallen und hat sich an der Kante der Treppe verletzt, sie war ohnmächtig, ich wollte das ja nicht. Aber dann… als sie so dalag, habe ich gedacht, wenn ich es jetzt zu Ende bringe, ist Rainer frei eine andere Frau zu heiraten, die mir richtige Enkelkinder bringt…“ „Mein Beileid!“, meinte Andy lakonisch und setzte sich auf eine staubige Truhe, während Kommissar Anders und zwei Polizisten durch die Tür stoben, Seelmann entwaffneten, Andy die Verkabelung abnahmen und sie als Beweis sicherstellten.

Aber schon eine Sekunde später war Tommy Rossthaler in den Raum gestürzt und begrub Andy in seinen Armen, als wollte er ihn nie wieder loslassen. „Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist! Du warst so cool, Mann! So cool, ich bin einfach nur noch groggy, fix und alle, Mann, ich bin so froh“, stotterte er in einem fort. Harald Herbholz stand unbeachtet und allein an der Seite, nachdem der Kommissar mit Seelmann abgezogen war und wollte auch gehen, aber Andy hielt ihn auf. „Du willst mich doch jetzt nicht allein lassen“, beschwor er ihn. „Ausgerechnet jetzt, wo ich dich brauche?“

Tommy war bereit, Harald als guten Engel zu betrachten, der ihm seinen Bruder wiedergebracht hatte und lud ihn herzlich in die Suite der Band im dritten Stock ein. Er schrie „Champagner!“ und sah mit Zufriedenheit, dass auch Spikey, Mick und Rudy aus dem Häuschen waren vor Freude und Erleichterung. Nach dem zweiten Glas Champagner sagte Andy, nur etwas lauter als sonst: „Tommy, ich muss jetzt was sagen. Das hätte ich schon längst tun sollen. Bitte lass mich ausreden, okay? Nur noch um dieses eine will ich dich bitten: Lass mich ausreden.“ Andy stand in der Mitte des großen Wohnraumes unter der unbarmherzig hellen Deckenleuchte, sah Harald an, ganz kurz sah er ihn an, stellte sein Glas ab und fing an zu sprechen:

„Mein Name ist Andreas Stölzl. Ich bin ein Waisenkind, im Kinderheim Bergwiese aufgewachsen. Von meinen Eltern weiß ich nichts, meine Mutter hat mich dort als sehr kleines Kind abgegeben, ich weiß nicht, wie alt ich war. Ich erinnere mich daran, dass später immer mal wieder Ehepaare kamen und mit mir spielten, ich hoffte, sie würden mich mitnehmen, aber sie haben immer ein anderes Kind genommen. Später begriff ich, dass ich irgendwann auch zu alt war, um in Frage zu kommen. Als ich acht Jahre alt war, kam ein Junge ins Heim, der hatte einen Vater, der sich aber nicht um ihn kümmern konnte, weil er dauernd auf Tournee war. Der Name dieses Jungen war Andreas Rossthaler. Mit diesem Jungen freundete ich mich bald an, wir waren uns wohl auch äußerlich etwas ähnlich, sie nannten uns die siamesischen Zwillinge. Dann kam dieser Schulausflug, als der Bus den Bergabhang hinunterstürzte, ich weiß nichts mehr davon, es ging zu schnell. Ich war im Krankenhaus, wurde mehrmals operiert, auch im Gesicht und du warst das einzig Reale, die einzige Wirklichkeit, die aus meinen Fieberträumen Bestand hatte, Tommy. Du warst da und hast mir dauernd gesagt, wie froh du bist, dass ich am Leben bin und dass ich wieder ganz gesund werde und irgendwann hast du versucht, mir vorsichtig beizubringen, dass unser Vater an Herzinfarkt gestorben ist. Ich hab gedacht, vielleicht holst du mich ja da raus und ich hab auch mal jemanden.“ Andy stockte, sah zu Boden, als traute er sich nicht weiter zu sprechen. „Ich wollte immer einen Menschen haben, der zu mir gehört und darum habe ich nichts gesagt die ganzen Jahre. Ich bin nicht dein Bruder und hab nichts gesagt!“ „Doch, Mann, du bist es!“ krächzte Tommy, seine Stimme klang heiser und weit weg. „Nein“, beharrte Andy. „Dein Bruder liegt auf einem Friedhof in der Nähe von Lausanne“. „Hat er lange leiden müssen?“, fragte Tommy. „Nein“, erwiderte Andy. „Das ist schnell gegangen.“ „Gott gebe seiner Seele Frieden“, murmelte Tommy. „Und dann“, fuhr Andy fort und lachte hysterisch. „… hast du immer so getan, als ob ich Wunder wie musikalisch wäre, wenn ich bloß eine kleine lumpige Melodie vor mich hin gesummt habe, hast du sie sofort auf Notenblätter aufgeschrieben. Du hast mir Aufnahmen von deiner Mutter und deinem Vater vorgespielt und mir jedes Instrument gekauft, jeden Musikunterricht bezahlt und immer, immer hatte ich solche Angst, dass der ganze Betrug endlich herauskommt. Ich hab mich so angestrengt, aber ich habe die ganze Zeit gewusst, dass ich es nicht bin, nicht wirklich musikalisch meine ich und ein Genie schon gar nicht…“ „Doch, Mann, du bist es!“ behauptete Tommy, der jetzt sehr gerade aussah. Er erinnerte Harald mehr denn je an einen Imperator. „Du bist doch immer der, der an Gott glaubt“, begann Tommy. „Aber ich sag dir was: Ich fang auch bald damit an. Denn was wäre denn gewesen, wenn ich dich nicht gehabt hätte? Ich wäre völlig verzweifelt, weil ich mich um niemand hätte kümmern müssen. Was wäre denn gewesen mit der Band ohne dich? Gar nichts wäre gewesen! Es muss doch einen Gott geben, der mir in dem Moment, wo mein Bruder stirbt, einen Bruder wie dich zurückgibt!“ Und wieder vergrub er Andy in seinen Armen, als wollte er ihn nie wieder loslassen. „Ich hab ja nicht gewusst, dass du Angst hast, Andy, ich hab nur gespürt, dass du mir ausweichst, dass du zu viel säufst und eigentlich immer abhauen willst und wusste nicht wieso, das hat mich so wild gemacht.“ „Es war nicht deine Schuld, Tommy, überhaupt nicht deine Schuld.“ Die anderen Bandmitglieder umringten sie und versicherten Andy, dass ihre Musik mit ihm stehen und fallen würde, ohne ihn wäre alles nichts und wie gottfroh sie wären, dass er wieder da war, verdammt noch mal! Harald ging unbeachtet aus dem Zimmer, aus dem Haus, allein in die dunkle Winternacht. –

Es war Donnerstag, zwei Tage waren vergangen, die Harald endlos lange vorgekommen waren. Einmal hatte Andreas Anders angerufen, um ihm für seine Mithilfe in dieser Sache zu danken. Man hätte jetzt das Geständnis von Albert Seelmann. Einmal hatten ihn Poppy und die Oma besucht, der er sagen konnte, dass sich „das falsche Pferd“ jetzt zu seinem richtigen Namen bekannt hätte. Und morgen war wieder einmal Freitag, der Tag, an dem er Peter in der JVA besuchen wollte. Harald seufzte und setzte Kaffeewasser auf, als es klingelte und Tommy Rossthaler hereinspazierte, der Imperator in Person. Man konnte den unsichtbaren Lorbeerkranz um seine befehlsgewohnte Stirn deutlicher denn je erahnen. Er nahm ganz selbstverständlich in der Küche Platz. „Wir sind Ihnen natürlich riesig dankbar, weil Sie meinen Bruder gerettet haben“, fing er an. Harald murmelte: „Keine Ursache! Kaffee?“ „Ja, bitte! Also, Sie haben es ja mit keinem Undankbaren zu tun, ich meine: Geld ist nicht das Problem.“ Harald meinte zu der Welt im Allgemeinen: „Bei mir auch nicht.“ „Naja, aber die Ausgaben läppern sich zusammen, ich weiß das, ich leite die Band jetzt wie viele Jahre? In den letzten Jahren ist es bei uns gut gelaufen, ich konnte was zurücklegen und darum machen wir jetzt Pause. Ich habe ein Studio gemietet, hier in Bischofsgrün, Spikey und Mick sind sowieso von da. Ich habe die Hotels so satt! Ich will eine eigene Wohnung haben, nur für mich. Aber was geht Sie das an?“ Er sah Harald kämpferisch in die Augen, der ihn verwundert betrachtete und nicht antwortete. Dadurch entstand eine Pause. „Ja, also, ich, äh, ich wollte mich bedanken“, Tommy versuchte offenbar seine Gedanken zu sammeln. „Ja“, bestätigte Harald vorsichtig. „Sie erwähnten. Es.“ „Genau, ja. Und mein Bruder, der kann einem schon auf die Nerven gehen.“ „Mir nicht“, erwiderte Harald. „Nein.“ „Und Geld, wie schon gesagt, kein Problem.“ „Ja“, echote Harald, der allmählich das Gefühl hatte, mit einem Irren zu reden. „Kein Problem.“ „Gut, also und wenn Sie irgendwelche Probleme haben, immer raus damit, ja?“ Harald überlegte, ob er ihm sagen sollte, dass er keine Probleme hätte, erwiderte aber einfach nur: „Ja.“ „Dann sind wir uns also einig?“ „Sind wir“, entgegnete Harald. Tommy seufzte vielsagend und trank Kaffee. „Er geht Ihnen wirklich nicht auf die Nerven?“ Harald riss eine kleinen Post-it-Zettel aus dem Notizblock, malte mit Druckbuchstaben ein großes: „NEIN!“ darauf und reichte ihn Tommy hinüber. „Behalten Sie es! Immer, wenn Sie Zweifel haben, können Sie ja nochmal nachlesen.“ Tommy faltete ernsthaft den Zettel zusammen und steckte ihn ein. Schließlich holte er sein Handy heraus, tippte ein paar Zahlen ein und sagte: „Mick? Okay, könnt reinkommen!“ Dann öffnete er die Wohnungstür, um die Mitglieder der Band hereinzulassen. „Die Jungs helfen Andy beim Einräumen“, erklärte Tommy, während Harald sah, wie die Männer Gepäckstücke hereinschleppten. „Andy hat gesagt, er könnte einfach so hier einziehen, da hab ich gesagt, das will ich aber selber hören. Ist okay, ich wills mal glauben.“ Harald fühlte, dass er plötzlich schwerer atmete und setzte sich auf einen Küchenstuhl. „Alles okay?“, Tommy beugte sich zu ihm hinunter. „Es ist nur das Knie“, antwortete Harald. „Ruh dich aus“, meinte Tommy und merkte nicht, dass er Harald plötzlich mit „du“ anredete. „Andy wird dir helfen, ist doch selbstverständlich…“ Harald nickte. Er hatte Angst, ihm würden die Tränen kommen und wollte das nicht. Endlich waren alle fort bis auf Andy. „Wir bleiben!“, jubelte dieser. „Mindestens ein Jahr! Tommy hat es versprochen, das wird eine Zeit, in der wir neue Songs schreiben und aufnehmen, wo ich so lange in der Kirche sein kann wie ich will, wo ich allein bin und doch nicht allein, eine Zeit, die wie im Himmel ist…“ Harald füllte zwei Cognacgläser drei Finger breit mit der bernsteingoldenen Flüssigkeit. „Bleib solange du willst! Meine Wohnung ist deine Wohnung!“

Am Freitag ging Harald wie immer durch die schlecht beleuchteten Gänge der JVA, um während der Besuchszeit Peter zu sprechen, der dasaß und verdrießlich aus der Wäsche guckte. „Wie geht’s dir?“, fragte Harald. „Ganz gut, aber das Essen hier…“ „Prima!“, schnitt Harald die übliche Lamentatio ab. „Freut mich, dass es dir gut geht. ICH habe nämlich diesmal eine Menge zu erzählen.“ Er lächelte. „Du bist nicht der einzige, der was erlebt hat.“ —

 

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Was im Himmel ist - Kurzgeschichte von Ruth Hanke
Was im Himmel ist

  • Michaela Ulrich

    Eine wunderbare, spannende Geschichte. Die Personen und die Umgebung sind so plastisch geschrieben, dass ich sie vor meinem inneren Auge sehen konnte. DANKE für die Veröffentlichung und alles Gute .

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