Ein Stück Papier
In der achten Klasse hatten mein Gymnasium in Erlangen und ich eine Krise. Ich hatte eine Shakespeare-Aufführung gesehen und war so gewaltig verzaubert, dass ich mich schlecht auf etwas anderes konzentrieren konnte. Ich ging in dieser neuen Welt auf und – Krankheit vorschützend – weigerte ich mich, in die Schule zu gehen. Wenn ich doch einmal hinging, las ich Shakespeare unter der Schulbank weiter. Von meinen Lehrern darauf angesprochen, antwortete ich wahrheitsgemäß, dass ich nicht wüsste, wie lange ich noch zu leben hätte und daher meine Zeit so sinnvoll wie möglich nutzen müsste. Es war klar: Ich würde die Klasse wiederholen müssen. Zwei Fünfen hatte ich schon sicher: In Mathematik und Physik. Aber auch in anderen Fächern erwartete ich für meine mageren Bemühungen keine guten Noten, es sei denn in Deutsch. Am Zeugnistag, ich war krank, holte mein Vater das Zeugnis ab. „Du bist mit wenig Aufwand versetzt worden“, sagte er. Obwohl ich zwei Fünfen hatte, wollte mich die Schule vorrücken lassen, weil ich weniger als die Hälfte aller Schultage anwesend war und sie hofften, ich würde mich nächstes Jahr entsprechend meiner Fähigkeiten einbringen. Daraufhin erstellte meine Mutter einen Lernplan mit vielen Rechenaufgaben für mich: „Deine Lehrer setzen großes Vertrauen in dich, des wollen wir uns schon als würdig erweisen.“ Die Mathematik und ich sind zwar keine engen Freunde geworden, aber: Ich habe es versucht.
Bei einem Zeugnis soll man sich Chancen aufzeigen lassen, Möglichkeiten zur Verbesserung erkennen, die Tiefen und Untiefen einer Entwicklung mitverfolgen, aber vor allem: Es nicht so ernst nehmen. Schließlich und endlich ist auch das Zeugnis nur: Ein Stück Papier.
Ein Stück Papier