Wo wir daheim sind

Meine Omi hatte ein schönes Haus in Breitensee gekauft, in der Nähe von Königshofen. Wenn man einen kurzen Spazierweg ging, konnte man die schwer befestigte Grenze zur DDR sehen mit Betongräben, Stacheldraht, bewaffneten Wachposten. Meine Omi sah oft hinüber, und erzählte von ihrer unbeschwerten Kindheit in dem anderen Teil von Deutschland. Sie war auf einem großen Gut in Pommern aufgewachsen, hatte eine herrliche Kindheit und Jugend bis ins frühe Erwachsenenalter erlebt, bis sie dann der Krieg zur Flucht mit ihren Kindern zwang. Sie meinte, die schöne Jugend hätte sie in gewisser Weise auch gestärkt, um alles Schwere, das ihr durch Krieg und Vertreibung widerfuhr, besser auszuhalten. 1989 wurde die Grenze geöffnet. Die Mauer fiel, was meine Omi im Leben nie mehr erwartet hatte und befand sich ab da in einem Taumel strahlender Vorfreude: Sie schmiedete eifrig Pläne für eine ausgiebige Reise zu den Orten ihrer Kindheit, die sie mit ihrem Sohn unternehmen wollte. Sie hat ihre Heimat nicht wieder gesehen, sie ist vorher gestorben. Aber das Glück, dass Pommern „wieder zu uns“ gehörte und die Heimat also in greifbare Nähe gerückt war, hat ihre letzten Tage erwärmt.

Als Kinder konnten meine Freundinnen und ich mit dem Begriff der Heimat wenig anfangen. Wo wir daheim waren, wussten wir selber und das Dorf, in dem wir wohnten, die Stadt, in der wir zur Schule gingen, waren für uns ganz normal und keiner besonderen Rede wert. Jetzt, wo so viele Menschen auf der Flucht sind wie nie zuvor, lerne ich den Wert dieses Begriffs wieder zu schätzen. Denn es ist eben keine Selbstverständlichkeit, in dem Ort, in dem Land bleiben zu dürfen, das man liebt, wo die Großeltern, Eltern und Kinder, Freunde und Nachbarn leben. Wie schwer es für die vielen Menschen auf der Welt ist, die alles verlieren und fliehen müssen, beginne ich mir ansatzweise vorzustellen. Daraus entsteht das Bedürfnis zu helfen, denn auch meine Omi und meine Schwiegermutter mussten fliehen und manche, die ihnen geholfen haben, haben auch uns geholfen, wenn wir sie auch nicht gekannt haben.

Wie tief die Heimat in einem verwurzelt ist, merke ich aber auch, wenn wir nach einem längeren Urlaub wieder nach Franken hineinfahren: Diese unbändige Vorfreude beim Anblick der kleinen, krummen Obstbäume an den gewundenen Straßen, die vertrauten Dörfer mit den steilen Dachgiebeln und endlich, wenn man aus dem Auto aussteigt, das tiefe, erleichterte Aufatmen: Wieder daheim!
 

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Wo wir daheim sind - Glosse von Ruth Hanke
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