Vitamine für die Seele

Einmal fragte ich meinen Schwiegervater: „Was ist deine Lieblingsfarbe?“ „Grau“, antwortete er. „Und weiter?“, drängte ich. „Deine zweitliebste Farbe?“ Er überlegte lange. Schließlich rang er sich ein „Braun“ ab. Ich sah ihn verständnislos an. Ich war erst siebzehn und wir kamen farblich nicht zusammen.

Ich besuchte meinen Vater im letzten Jahr seines Lebens, er hatte „Parkinson“ im Endstadium und konnte sich damals schon vorstellen, wie er gesagt hatte, dass er einmal nicht mehr auf der Welt wäre. Er fühlte sich müde, meinte, er hätte sein Leben gehabt und war bereit zu Gott zu gehen.

„Aber gibt es nicht auch jetzt noch etwas, das das Leben für dich lebenswert macht?“, wollte ich wissen. „Ja“, meinte er. „Zum Beispiel Farben, herrliche, kräftige Farben. Farben, sagt man, sind Vitamine für die Seele.“ Nächstes Mal brachte ich ihm einen leuchtend roten Weihnachtsstern mit, der ihm sehr gefiel und eine Flasche Likör – das war eine der anderen Dinge, die das Leben lebenswert machen.

Gerade jetzt, wenn der Herbst mit seinen rauschend bunten Wäldern in einen nasskalten und grauen Winter übergeht, brauchen wir die hellorangen Mandarinen, tiefroten Äpfel und gelben Bananen, zum Essen, aber auch zum Anschauen. Wir brauchen den rose-farbigen und dunkelroten Samt der Amaryllis, das blaue Grün der Tannen und Kiefernzweige, um uns mit ihren Farben und ihrem Duft etwas von der Natur hereinzuholen, die wir jetzt vermissen. Nur muss man, um die Vitamine der Seele aufzunehmen, sie auch wirken lassen. Es nützt nichts, ein herrliches Adventsgesteck zu dekorieren und anschließend gleich weiter zu rennen. Die Vitamine der Seele brauchen genauso wie die Vitamine für den Körper, genug Zeit um einzuwirken. Denn nur so kann man Abwehrkräfte bilden gegen den Novemberblues, Vorweihnachts-Burnout und grippalen Dauerinfekt.

Besonders kann man sich mit Farben – und ein bisschen Likör, wer das möchte – gegen die stetig um sich greifende Freudlosigkeit wappnen, die trotz der Vorweihnachtszeit viele Menschen befällt. Ein garantiert wirkungsvoller Schachzug ist es, ausgerüstet mit ein paar Mandarinen und einer Amaryllis, den Wintertrübsinn gemeinsam mit einem Mitmenschen zu bekämpfen, der vielleicht schon lange auf einen Besuch wartet. Mit Überraschungsfreude serviert und gemeinsam genossen – es geht auch mit dem Ehepartner – wirken körperliche und seelische Vitamine nämlich doppelt so gut und der Novemberblues verschwindet auf Nimmerwiedersehen, wetten?!

 

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Vitamine für die Seele - Glosse von Ruth Hanke
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