Unerwünschte Papiere

„Ich muss mal wieder Ordnung in meinen Papieren schaffen“, verkündet der Randolf heute früh. „Mein Schreibtisch sieht aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen! Jeder will was von mir und schickt mir irgendeinen Senf: Die Krankenkasse, die Lohnsteuer, der Vogelschutzverein und die ganzen Spendenquittungen; ich werde das alles wegschmeißen. Kein Mensch braucht so viel Papier!“ „Aber wenn es etwas Wichtiges ist?“, wende ich ein. „Und wenn schon“, knurrt er, „dann werden sie schon nochmal schreiben oder anrufen oder … „ „ … gleich selbst vorbei kommen“, ergänze ich.

Tatsächlich kann der Randolf, ein Mann der Tat, bei dem Wegwerfen von lästigen Papieren auf eine gewisse Tradition zurückblicken. Er war noch ein junger Student, wir waren erst kurz verheiratet, als ihn ein Zivilbeamter dabei erwischte, wie er bei „Rot“ über die Ampel ging. Kurz darauf flatterte ein Bußgeldbescheid von 80 DM ins Haus, der den Randolf regelrecht auf die Palme brachte: „Nichts habe ich gemacht, gar nichts! Es war weit und breit kein Mensch und kein Auto zu sehen, aber diese Verbrecher verkleiden sich ja als Zivilisten und lauern anständigen Bürgern auf, um sie um ihr Geld zu betrügen! 80 Mark – die sind ja nicht mehr ganz sauber, das zahle ich nicht! Niemals!“ Also warf er den Bußgeldbescheid weg, der die unangenehme Angewohnheit hatte zurückzukommen. Der Randolf veränderte die Strategie und legte Widerspruch ein; es half nichts. Schließlich machte er geltend, dass er ein armer Student sei und die 80 DM nicht zahlen könnte: Das Amt genehmigte ihm, die achtzig Mark in 8 Raten abzuzahlen, was sich mit einigen Stockungen über ein gutes Jahr hinzog. Ich war ehrlich erleichtert, als wir die letzte Rate bezahlt hatten.

Viele Jahre später, er war schon längst kein armer Student mehr, wiederholte sich die Geschichte. An diesem Tag erwartete ich den Besuch meines Vaters und als es klingelte, öffnete ich, in der Erwartung ihn zu sehen. Es war auch tatsächlich mein Vater, der den kurzen Gartenweg entlang kam, aber er wurde von zwei jungen Frauen in Polizei-Uniform begleitet. „Ruthl“, meinte er. „Ich glaube, die Polizei will dich sprechen.“ Die beiden jungen Damen waren entzückend, eigentlich vielmehr so, als ob sie um eine Spende bäten anstatt ein Bußgeld einzufordern. Verschämt lächelnd zeigten sie mir ein Foto vom Randolf, der hinter dem Visier des Motorradhelms verärgert blinzelte, in dem Moment, als er das Blitzgerät erkannt hatte. Darunter stand, dass er mit der Ducati 147 km/Std am Ortausgang gefahren war. Ich versprach das Bußgeld zu bezahlen. „Warum hast du zugegeben, dass ich das bin?!“, tobte der Randolf, als er heimkam. „Das hätten sie nie beweisen können! Wieso schicken sie mir kein Foto, groß genug, dass ich beurteilen kann, ob man mich auch wirklich erkennt?“ „Weil das die Polizei ist und kein Fotostudio!“, gab ich zurück, worauf er antwortete: „Eigentlich solltest du das Geld aus deiner Tasche zahlen, das war ja Verrat!“ Trotz bisheriger Erfahrungen versuchte er auch hier noch einiges, um die Zahlung zu vermeiden, bis sein Sohn Daniel das Wort ergriff: „Wie kann ein erwachsener Mann wegen ein paar Euro Bußgeld so ein Theater machen!“ (Wortwahl leicht verändert) Worauf der Randolf endlich das Geld überwies.

Einige Monate später fing er sich auf einer Dienstreise nach Chemnitz drei weitere Bußgeldbescheide ein, die er ohne Umstände an seinen Arbeitgeber, die Fraunhofer Gesellschaft, weiterleitete. Der Finanzchef des Instituts bedauerte lebhaft, in dieser Sache leider nichts für ihn tun zu können und ein Amt aus Flensburg schrieb, dass bei einer neuerlichen Erhöhung von Strafpunkten ein Führerscheinentzug ins Haus stünde.

„Überleg es dir“, meinte ich. „Dann wird einer von uns mit dem Rad einkaufen müssen.“ „Mit dem einen meinst du mich, oder?“ „Naja, ich kann auch einkaufen gehen“, bot ich an. „Nein“, widersprach er. „Lieber nicht, sonst hab ich den ganzen Tag in der Arbeit keine Ruhe, so wie du Fahrrad fährst: Das ist ja gefährlich!“

Wo er Recht hat, hat er Recht: Sicherheit geht vor.

 

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Unerwünschte Papiere - Glosse von Ruth Hanke

 

Unerwünschte Papiere

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