Pünktlichkeit

An einem Tag im Dezember vor 25 Jahren saßen mein Mann Randolf und ich in der Küche, fertig zum Gehen und warteten auf meinen Vater, der uns um halb zwölf abholen wollte. Noch waren wir ruhig und zuversichtlich. Dass mein Vater, ein chronischer Zuspätkommer, wenn er „halb zwölf“ sagte, nicht um halb zwölf da war, war die Norm. Manchmal kam er schon zehn Minuten später, manchmal zwanzig, diesmal war er um 12.00 Uhr immer noch nicht da.

Um 12.15 Uhr entstand in mir der Wunsch, nicht immer wie „bestellt und nicht abgeholt“ dazusitzen. Ich ließ Badewasser ein und legte mich in die Badewanne. Jeden Moment musste mein Vater an der Tür klingeln; dann würde der Randolf mit bedauerndem Schulterzucken sagen: „Komm doch herein, Fritz! Die Ruth ist leider noch nicht fertig – sie liegt noch in der Badewanne!“ Und dann würde mein Vater endlich einmal merken, wie das ist, wenn sich der andere so GAR nicht an die Abmachung hält.

Das Wasser war heiß, dann wurde es warm, schließlich kalt, die Fingerkuppen wurden wellig. Zähneklappernd stieg ich heraus und zog mich an. Als ich, mit unaussprechlichen Verwünschungen im Herzen, die Schleife der Bluse fertig gebunden hatte, klingelte es. Mein Vater stand in der Tür mit der heiteren Gelassenheit, die ihn immer umgab und lächelte: „Ich bitte um Entschuldigung, eine kleine Verspätung. Können wir jetzt fahren?“

Dass ich ein überpünktlicher Mensch geworden bin, liegt also nicht an meinem Vater, sondern, wenn ich es denn geerbt haben sollte, an meiner Großmutter väterlicherseits, von der erzählt wird, dass sie immer schon eine ganze Stunde vor Abfahrt des Zuges am Bahnhof war. Meistens hätte sie noch locker einen Zug früher nehmen können.

Mein Sohn Daniel dagegen hat von seinem Großvater nicht nur den Hang zu Diplomatie und tiefschürfenden Büchern geerbt, sondern auch die Gewohnheit, immer erst auf den allerletzten Drücker zu kommen.

An einem Tag im Mai rief bei uns ein Lehrer des Hardenberg-Gymnasiums an, der Daniel möchte bitte zum Religionsabitur kommen. Ich rief hinunter:
„Dany! Deine Schule! Du hast jetzt Religionsabitur!“ Die Antwort kam prompt:
„Diese Penner! Sie haben sich in der Zeit geirrt! Sie sollen auf ihren Plan schauen.“
„Mein Sohn meint…“ sagte ich in den Hörer, wurde aber unterbrochen:
„Wir haben es gehört! Er soll jetzt kommen. Wir haben nämlich eine Liste und können nicht einfach jemand anderen vorher drannehmen, ja?“
„Entschuldigung“, flüsterte ich schockiert, „Er kommt sofort. Wiederhören.“
„Daniel!“ schrie ich. „Du sollst SOFORT kommen…“

In dem Moment hörte ich, wie unter dem lautstarken Dröhnen des Subwoofers sein Auto vor dem Haus wegfuhr. Er musste endlich den Ernst der Lage begriffen haben und gleich vom Kellerfenster aus in sein Auto gesprungen sein. Dass ihn seine Prüfer ohne Punktabzug für die unverschämte Verspätung mit 14 Punkten bestehen ließen, war ein Glück, mit dem man doch nicht immer rechnen sollte – auf dieser Welt steinigem Acker.

Menschen, die einen zwei Stunden vor dem gedeckten Tisch warten lassen, während die Kerze herunterbrennt und der Kaffee kalt wird, stellen die Beziehung auf eine harte Probe. Eine ernst-gemeinte Entschuldigung und wenigstens der Versuch einer Besserung sind ein Freundschaft erhaltender Schritt in die richtige Richtung. Wohingegen ein unbekümmertes: „Reg Dich nicht auf! Ich bin nun mal so!“ oft nicht so sehr empfehlenswert ist.

Aber dass ausgerechnet ich umgeben bin von einem Vater, dessen sonniges Gemüt über jeder Verspätung steht, von einem Sohn, der gerne auf den letzten Drücker kommt und einem Ehemann, der Zeit sowieso nach ganz eigenen Regeln definiert, legt geradezu überdeterminiert den Verdacht nahe, dass es hier für mich etwas zu lernen gibt: Das Erweitern der Toleranz, das Lernen von Geduld und Vertrauen haben in die Zeit. Ich z. B. freue mich jetzt schon über die familiäre Verstärkung, die ich mit einem Kind vom Daniel vielleicht einmal haben werde. Denn das wird bestimmt so ein übergewissenhafter, kleiner Käfer werden, der schon mit drei Jahren darauf achtet, bloß nicht zu spät in den Kindergarten zu kommen.

Und wenn ihn dann der Zorn auf seinen laxen Vater packt, wird ihm niemand so gut wie ich zureden können, dass man ruhig auch mal fünf gerade sein lassen kann. Oder, um es mit Eugen Roth zu sagen:
„So einfach wird oft auf der Welt
die Wahrheit wieder hergestellt.“

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