Letzter Akt am Bosporus
Schon seit den Tagen meiner Kindheit habe ich mich immer hingebungsvoll um Ordnung bemüht. Ein altes Sprichwort sagt: „Wer Ordnung hält, ist nur zu faul zum Suchen“ und das traf auf mich vollkommen zu. Außerdem verunsichert es mich, wenn ich etwas nicht finde, ich nehme das irgendwie persönlich. Wenn ein Buch nicht an seinem angestammten Platz im Regal ist, fühle ich mich betroffen, wie wenn eine Freundin mich plötzlich nicht mehr grüßen würde. Während meine Töchter auch noch über verlorene Haustürschlüssel entspannte Witze reißen können – „ … aber natürlich weiß ich, wo man sich einen Schlüssel nachmachen lässt, Mama, die Susi und ich gehen, wenn wir in der Stadt sind, immer zuerst zum Schlüsseldienst und dann zum Eiscafé!“ – prüfe ich dreimal, bevor ich das Haus verlasse, gewissenhaft nach, ob sich mein Haustürschlüssel auch im Reißverschluss Fach der Handtasche befindet. Ich weiß also, wo meine Sachen sind und durch ein gutes Gedächtnis und langjährige Übung mit den Kindern weiß ich auch oft noch, wo die Handys, Schlüssel, Geldbeutel der anderen sind.
Daher konnte ich es einfach nicht glauben, als ich eines Tages eine Karte von der Gemeindebücherei Puschendorf erhielt, die mich aufforderte das Buch: „Letzter Akt am Bosporus“ zurückzugeben. Ich rief dort an, um mitzuteilen, ich hätte es nicht mehr. Man sagte mir, ich MÜSSTE es haben, ich sollte noch einmal nachsehen. Lustlos sah ich 2 Stapel Bücher im Schlafzimmer durch, die ich gerade las und wusste es im Voraus: Das Bücherei-Buch war nicht dabei. Bei meinem nächsten Besuch in der Bücherei trat ich entschlossen für meine Überzeugung ein: „Ich habe es nicht! Ich habe es nicht! Und wenn Sie sich auf den Kopf stellen, es ist nicht bei mir, physikalisch unmöglich!!“ Und dabei waren die ehrenamtlichen Büchereifrauen weit davon entfernt, sich auf den Kopf zu stellen. Weiterhin verbindend und gutwillig im Ton, kam man aber in der Sache nicht recht zusammen. Die Angelegenheit zog sich hin und verdross mich zunehmend. Mehrmals bot ich an, das Buch zu bezahlen, erntete aber immer wieder die freundliche Aufforderung, doch bitte nochmal nachzusehen. Schließlich kehrte man das Thema zu Gunsten der guten Stimmung unter den Tisch und sprach nicht mehr davon. Bis eines Tages Frau Federring (Name geändert) mich, während sie meine Leihbücher abstempelte, ermutigend aus ihren überzeugenden, blauen Augen ansah und sagte: „Bitte, Frau Hanke, Sie sind so eine tolle Frau: GEBEN SIE UNS DAS BUCH ZURÜCK!“ Gegen diesen wehrlosen Ernst fiel mir nichts mehr ein. Sie war so überzeugt davon, dass es bei mir war. Sollte tatsächlich die Möglichkeit bestehen, dass sie Recht hatte?
Zuhause setzte ich mich den beiden Buch-Stapeln vor meinem Bett gegenüber und nahm langsam, Stück für Stück ein Buch nach dem anderen herunter. Und da, als vorletztes Buch des zweiten Stapels, lag deutlich sichtbar das Buch: „Letzter Akt am Bosporus“. Ich nahm es in die Hand und konnte es buchstäblich nicht fassen.
Die Büchereifrauen haben ein großes Herz, sie freuten sich aufrichtig, dass das Buch wieder aufgetaucht war und fragten anteilnehmend: „Wo war es denn?“ Ich murmelte irgendetwas. Ich brauchte eine Weile, um zuzugeben, dass es genau da war, wo es hätte sein sollen. Nur durch mein eigenes Vorurteil, dass es da nicht wäre, habe ich nicht genau genug hingeschaut und durch die feste Überzeugung, dass ich, was die Ordnung angeht, immer Recht hätte, noch weiter darauf beharrt. „Tut mir Leid! Das war wirklich besonders dämlich von mir!“ „Aber nein, was glauben Sie, wie oft das vorkommt?“ trösteten mich die Büchereifrauen, die ein großes Herz haben.
Aber ich hätte eigentlich wissen müssen, dass niemand perfekt ist. Es ist vielmehr, auch, was einen selbst betrifft, so wie Konfuzius sagt:
„Lernen ist wie rudern gegen den Strom – wer aufhört, treibt zurück“
Letzter Akt am Bosporus