Komplimente
Ich begleitete meine Freundin Ulrika durch die Gänge der Fraunhofer Gesellschaft, wo einem in Abständen eher unkommunikative Männer verschiedenen Alters begegneten, die durch uns hindurchsahen als wären wir Gespenster.
Ungeachtet dessen hatte meine Freundin auch für diese Maulfaulen ein helles Lächeln und einen persönlichen Gruß:
„Hallo, Jürgen, wieder zurück aus England? Wie war der Flug?“ Wenn sie, was seltener passierte, ein weibliches Wesen traf, blendete sie ihren ganzen Charme auf:
„Neue Frisur, Claudi? Steht dir prima! Wirklich zuckersüß!“ und sie erntete ein glückliches Lächeln. Bei der nächsten jungen Frau, deren Frisur aussah, als wäre sie unabsichtlich unter den Rasenmäher gekommen, meinte Ulrika:
„Mensch, ich habe dich heute gar nicht im Bus gesehen. Bist du wohl mit dem Rad gefahren? Schon so früh? Irre sportlich!“ Und wieder wurde es um uns merklich heller. Ich merkte, dass Ulrika nie etwas sagte, das sie nicht meinte, sie war ein durch und durch ehrlicher Mensch, aber es gelang ihr an jedem Menschen innerlich und äußerlich etwas Positives zu entdecken und es auch zu sagen. Ich wunderte mich, wie schnell das ging. Quasi im Vorübergehen zog sie einen Schweif aus Glück, Freude, Heiterkeit und Anerkennung hinter sich her. Warum machen wir so selten ein Kompliment locker, wenn es so viel Freude bringt und so wenig kostet? Tatsächlich kriegen manche Menschen ihren Mund so schwer zu einem Lob auf, als ob jedes Wort zehn funkelnde Euro kosten würde, die sofort von ihrem Gehalt abgezogen würden. Für die Anfänger wäre schon ein herzlicher Gruß ein großer Fortschritt und ein einfaches: „Schön, dich zu sehen!“ hat schon manches Eis gebrochen. Außerdem ist die Bemühung an jedem etwas Positives zu sehen ein Training, das einem größere, geistige Beweglichkeit beschert, wie zum Beispiel bei Ulrika, die eines Morgens den Karl, einen Informatiker bei mir im Zimmer traf, der die liebenswürdige Ulrika einmal zu oft ignoriert hatte.
„Ah, der Karl Altbauer, wie er wieder auf seinem Sitz herumhängt: Ein Energiepotential wie ein toter Fisch! Ein Wunder, dass er es trotzdem geschafft hat, sich in die Arbeit zu schleppen!“, grinste sie. „Allerhand Achtung!“
Da sah er endlich von seiner Tastatur auf: „Wie meinst denn du das jetzt?“, fragte er und guckte misstrauisch durch seine Brillengläser. „Gut!“, behauptete ich schnell. „Sie meint es immer nur gut. Es kann ihr eben keiner widerstehen. Willst ein Stück Mandarine?“ Er schüttelte ernsthaft den Kopf: „Nein, deine Mandarinen sind so sauer, das zieht einem ja die Schuhe aus.“
„Das musst du aushalten“, lachte Ulrika: „Sauer macht lustig!“