Ein Zehnerle und seine Zinsen

Im Februar 1977 gingen der junge Mann, den ich vor einigen Monaten kennengelernt hatte und ich den Weg über die Schwabach-Brücke zum Wald hinunter. Wir gingen immer spazieren, wenn wir allein sein wollten. Am Waldrand fand er ein Zehnpfennigstück. „Nimm du es!“, meinte er und wollte es mir schenken. „Nein, nimm es du – als Erinnerung!“, erwiderte ich. So ging das ein paar Mal hin und her. Plötzlich durchfuhr mich die Angst, dass das, was uns verband, einmal Vergangenheit werden würde wie die Kurz-Beziehungen, die ich aus der Schule kannte. Ich erschrak vor dem Gedanken, dass dieses Zehnerle das Einzige wäre, das von uns bleiben würde und vielleicht nicht einmal das. Irgendwann hörte er auf, mir das kleine Geldstück aufzudrängen und steckte es in die Anorak-Tasche. Ein paar Tage später gab er mir eine blaue Schmuckschachtel. Darin lag wieder das Zehnpfennig-Stück, aber in wie verwandelter Form! Es glänzte jetzt silbern, eine kundige Hand hatte Löcher in einer Herzform hineingebohrt und es mittels einer Silberdrahtöse in einen Anhänger verwandelt. Ich freute mich riesig! Eine ganze Weile war ich weder tags noch nachts im Stande die Kette mit dem Münzanhänger abzunehmen, auch in der Schule nicht. „Ist das von deinem Freund?“, fragte mich eine Klassenkameradin. „Wieso?“, gab ich zurück. „Wieso trägst du es sonst?“, fragte sie. „Weil ich so nie ohne Geld bin“, antwortete ich. „Na, ich weiß nicht“, unkte sie. „Da hat jemand ein Herz hineingebohrt.“ „Hm“, murmelte ich. „Wenn du es sagst, wird es wohl stimmen.“

Noch jetzt begegnet mir manchmal dieses Fundstück, es glänzt wie am ersten Tag. Der, der es mir geschenkt hat, hat mir seither noch viele wertvollere Geschenke gegeben, aber keines mehr, das er selbst gestaltet hat wie das gefundene Zehnerle, zu der Zeit, als er Maschinenschlosser im ersten Lehrjahr war.

„Was nichts kostet, ist nichts wert“, sagt eine Freundin manchmal. Ich bin nicht dieser Ansicht. Gerade kleine Zufälle können große Wirkungen haben, kleine Fundsachen eine große Bedeutung bekommen. Haben Sie auch einige Kleinigkeiten zu Hause, die Sie gefunden haben: Ein Schneckenhaus, einen interessanten Stein, eine Münze? Holen sie es wieder hervor, vielleicht ist es mit der Zeit nicht weniger, sondern mehr wert geworden – und bringt Zinsen.

 

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Ein Zehnerle und seine Zinsen - Glosse von Ruth Hanke
Ein Zehnerle und seine Zinsen

  • Michaela Ulrich

    Eine bezaubernde Geschichte. Danke für die Veröffentlichung und noch viele wunderbare Jahre mit dem einfallsreichen, ehem. Maschinenbauschlosser.
    Liebe Grüße
    Michaela

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