Die Kunst, den Opa zu beschenken

Mein Opa war ein lieber und bescheidener Mensch, weit weg von irgendwelchen besonderen Ansprüchen und daher, könnte man denken, müsste es doch leicht sein, ihm eine Freude zu machen.

Das war aber ganz und gar nicht so. Er wünschte sich von mir zu Weihnachten immer eine Tube Rasiercreme (damals: 2,98 DM). Aber natürlich war ich der Ansicht, dass eine Packung Rasiercreme für einen ganzen Opa ein bisschen wenig ist und die Idee, ihm zwei oder drei Packungen zu schenken, war nicht eben originell. Vor allem riss ihn die Rasiercreme ja auch nicht gerade vom Hocker, er bedankte sich zwar immer sehr freundlich, aber es verlangte mich danach, zum Fest der Liebe eine etwas stärkere Emotion mit meinem Geschenk zu entfachen. Beinahe meditativ versuchte ich mich in seinen Seelenzustand zu versetzen. Dabei fiel mir folgende Begebenheit ein:

Ich war nach Fürth gezogen und besuchte ihn in seiner Wohnung und er gab mir zwei Bananen und zwei Grapefruits, zwei Koteletts tiefgefroren, er gab mir 500 Mark und etliche Tafeln Schokolade. Das alles gab er mit der selbstverständlichen Großzügigkeit eines Menschen, der weiß, dass alles vergänglich ist und der lieber mit der warmen als mit der kalten Hand gibt. Alsdann begab er sich in seine penibel saubere und ordentliche Besenkammer, um eine Tüte zu bringen, in die ich meine Schätze verpacken konnte. Das erste Exemplar, mit dem er herauskam, hatte er offenbar einmal in einer Apotheke bekommen, denn es bot kaum Platz für ein Medizinfläschchen und eine Packung Taschentücher, auch die zweite und dritte Tüte verfügte nicht über das notwendige Fassungsvermögen. Sehr drollig gerieten seine Versuche, die Geschenke in die zu kleinen Tüten zu stopfen. Schließlich bot ich ihm 10 Pfennig für eine original große Tüte an. Er lachte kurz und bitter. Was sind 10 Pfennig für eine schöne, große Plastiktüte, an der das Herz des Sammlers hängt? Endlich brachte er eine große Tüte mit Wehmut in den Augen: „Das ist fei meine Schönste!“ Ich versprach, die Tüte zeitnah zurückzubringen. Schon bevor ich daheim die Haustür aufsperrte, hörte ich das Telefon klingeln: „Meine Tüte!“, forderte der Opa ungeduldig. „Sofort, sofort!“, rief ich und rannte wieder los, um ihm die Tüte zu bringen.

Zum nächsten Weihnachten schenkte ich ihm zehn nagelneue Plastiktüten (2 Mark) und er war richtig begeistert, er hatte schon beim Einsortieren mehr Freude daran als ein Kind mit seiner elektrischen Eisenbahn. Seitdem weiß ich, dass es tatsächlich möglich ist, mit etwas ganz Persönlichem das Herz des Beschenkten tief zu erfreuen, das gilt für junge wie für alte Menschen. Haben Sie den Mut, neue Wege bei Geschenken zu gehen und die Freude, die zurückkommt, ist eines der Glückspuzzleteile für

Fröhliche Weihnachten!

 

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Die Kunst, den Opa zu beschenken - Glosse von Ruth Hanke
Bild mittels KI generiert von Leonardo.Ai

Die Kunst, den Opa zu beschenken

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