Die Bestimmung
Die Erfahrung, dass Kinder ihren eigenen Kopf haben, teile ich wohl mit allen Müttern der Welt. Meine kleine Tochter wollte nie meine Meinung über die Orthographie ihrer Aufsätze hören; die Frage, mit welchen Schuhen und ob überhaupt mit Schuhen sie in die Schule ging, wähnte sie weit weg von meinem Einflussbereich; in allen Fragen des Internet und der Digitalisierung, Verkehrsmitteln und Sportprogrammen war ich offenbar ahnungslos wie ein Huhn. Aber wenn es um Hautpflege und Makeup-Technik ging, lauschten mir meine beiden Hübschen – und bei Hautpflege sogar mein Sohn -, mit schmeichelhafter Aufmerksamkeit und befolgten meinen Rat Wort für Wort. Blumen sind mein Methadon, aber Hautpflege ist die Basis meines Wohlbefindens mit deutlichem Suchtfaktor: Für mich ist es einfach ein Fest mit Gesichtsmaske in einem nach Rosmarin oder Melisse duftenden Bad zu liegen und hinterher eine Bodylotion einzumassieren, die die Haut samtweich macht. Das Fruchtsäurepeeling und der Hyaluron Booster, das Creme Puff Puder, der Lichtschutzfaktor und die High-End-Potential-Nachtcreme sind für mich keine Fremdwörter. Ich liebe den Glitter-Eyeliner, die verführerischen Lidschattenpaletten, die wirkungsvolle Mascara. Ich war schon als ganz junge Frau so: In meiner Arbeit als Grafikerin konnte ich meine Freude an der Farbe ausleben und als ich, nachdem ich mit meiner Kleinen schwanger war, beschloss als Hausfrau und Mutter zu arbeiten, wollte ich aber trotzdem so aussehen, als ob ich in die Arbeit ginge. Das half mir, mich in dem neuen Lebensabschnitt einzugewöhnen und war gut für das Selbstbewusstsein. Meine Freundin Gabi war ein ganz anderer Typ als ich: Immer ungeschminkt sah sie mit ihrer Schneewittchen-Haut, den dunklen Augen und schwarzen Haaren sehr gut aus und setzte auch sonst eher auf natürliche Schönheit. Das ist ja das Tolle: Wir haben die Wahl, naturbelassen oder vorteilhaft hergerichtet, Jeans und T-Shirt oder die große Gala-Garderobe mit Wow-Effekt. Vielleicht ist es nicht immer ein Vorteil, eine Frau zu sein; aber was die pflegende und dekorative Kosmetik angeht, ist es ein Vorteil: Da können wir nach Herzenslust machen, was wir wollen. Auch die Pflegeprodukte für Männer entwickeln sich weiter und sorgen bei Herren jeden Alters für gutes Aussehen und Wohlbefinden. Sogar den sportbegeisterten Naturburschen ist klar, dass sie nicht wie Räuber Hotzenplotz herumlaufen wollen. „Ungepflegt geht gar nicht!“, meint mein Sohn. Sonst hat er noch anzufügen, dass ich mit meinen Kosmetik-Kenntnissen einen gewinnbringenden Blog haben könnte. Wenn ich da Werbung zuließe, würde ich einen Haufen Geld verdienen und alle wären aus dem Schneider, warum nicht? „Ich sehe mich nicht so als Werbe-Ikone“, antworte ich. „Ich möchte mich lieber als Autorin und Dichterin einbringen.“ Er seufzt, als ob er es befürchtet hätte. Vielleicht gehe ich ja wirklich an meiner Bestimmung vorbei – wer weiß?
Die Bestimmung