Das ist ja gar nicht deine Jacke!
Es war für mich nicht ganz einfach, die vierjährige Susi vom Kindergarten abzuholen. Ich weiß nicht, wie andere Mütter das machten, aber mit Susi war ich immer die letzte. Dabei war es ja nicht so, dass sie sich nicht gefreut hätte.
„Mama-aa!“, schrie sie schon von weitem vor Begeisterung, stürzte sich in meine Arme und ließ sich ein paarmal herumwirbeln. Aber dann kamen wir in die Kindergartengarderobe und die Schwierigkeiten fingen an. Ich zog ihr einen gelben Gummistiefel an, während sie den anderen anzog. Beim Rausgehen stellte ich fest, dass der linke Gummistiefel oben ein blaues Bündchen hatte, also einem anderen Kind gehörte und wir mussten wieder umdrehen.
Als endlich der rechte Schuh rechts saß und der linke links und es auch wirklich ihre Schuhe waren, fiel mir auf, dass auf ihrem Kindergartentäschchen um den Hals ein kleines Einhorn aufgebügelt war, dass es also wieder nicht ihres sein konnte. Inzwischen waren wir schon fast am Wald angekommen und mussten – ich etwas zähneknirschend – wieder umkehren. Schließlich hatten wir Susis eigene Tasche aufgetrieben und gingen zum dritten Mal durch die Eingangstür, da trafen wir Susis Kindergartenleiterin. Sie musterte die Susi kritisch von oben bis unten und gab dann folgenden, vernichtenden Satz von sich: „Das ist ja gar nicht deine Jacke!“
Dieser Satz, das musste die kleine Susi gemerkt haben, machte gewaltigen Eindruck. Unter verlegenen, ärgerlichen Entschuldigungen suchte ich erneut die Garderobe auf, um unter den 24 roten Anoraks den herauszusuchen, der auch wirklich Susi gehörte.
Jedenfalls hatte sich dieser Satz: „Das ist ja gar nicht deine Jacke!“ der Susi eingeprägt und sie wiederholte ihn mit wachsender Begeisterung und wechselnden Betonungen, als wollte sie ihn in seiner Tiefe ausloten.
Während sie im Zickzack auf einem Bein den Waldweg hinaufhüpfte, behauptete sie:
„DAS ist ja gar nicht deine Jacke!“
„Das IST ja gar nicht deine Jacke!“
„Das ist ja gar nicht deine JACKE!“, bis ich es einfach nicht mehr hören konnte. Ich war froh, als wir in unsere Straße einbogen und hoffte, die Kleine würde erst einmal im Sandkasten verschwinden, um den fatalen Satz an ihren Schaufeln und Förmchen auszuprobieren. Etwa 50 Meter von unserem Haus entfernt, trafen wir auf Valerie, Susis ältere Freundin, die schon in die erste Klasse ging. Die Susi baute sich frontal vor ihr auf, musterte sie von oben bis unten wie die Kindergartenleiterin und behauptete: „DAS IST ja gar nicht deine Jacke!“, worauf Valerie aufschrie: „Doch, doch, die hat mir meine Oma gekauft, sie gehört mir, ich schwöre es…“ Inzwischen hatten uns andere Kinder umringt, während die Susi diesen vernichtenden Satz in gesteigerter Anklage mit großer Überzeugung wiederholte: „DAS IST JA GAR NICHT DEINE JACKE!!!“ Und Valerie, der Prototyp der verleumdeten Unschuld, brach in Tränen aus: „Ich sag aber doch die Wahrheit…“ „Natürlich!“, meinte ich. „Mach dir nichts draus, Valerie, sie redet Blödsinn! Komm jetzt, Susi!“
Unbeeindruckt von dem entstandenen Tumult, begab sich die Susi in den Sandkasten, aber als sie am nächsten Tag diesen Satz wieder an einigen Kindergartenkindern ausprobieren wollte, habe ich ihr das einfach untersagt: „Schluss – aus! Denk dir was Neues aus! Dieser Satz ist verbraucht!“
Ich konnte sehen, wie sie dachte: „Ach, schade, es hat so gut funktioniert!“