Das Glück der anderen

Unsere Nachbarn gegenüber haben eine traumhaft gelbe Forsythie, groß, dicht, akkurat geschnitten, prangt sie mit einer Unzahl von Blüten und begrüßt den kommenden Frühling. Dieser Strauch harmoniert aufs Schönste mit der erneuerten Hausfarbe dahinter, so dass man automatisch gute Laune bekommt, wenn man daran vorbei geht.

„Am liebsten würde ich die Forsythie ausgraben und bei uns einpflanzen“, bemerkt der Randolf, der unsere eigene Forsythie in der Buschreihe kritisch beäugt. Eigentlich ein naheliegender Gedanke, aber wäre das – abgesehen von anderen Komplikationen – auch effektiv?

Mitnichten! Er hätte von dem schönen Strauch in unserer eigenen Buschreihe viel weniger als im Vorgarten der Nachbarn, wo er den Baum mehrmals am Tag nah und deutlich sieht, er könnte sogar an ihm riechen und ihn sogar anfassen; die Nachbarn, freundliche und großzügige Menschen, hätten bestimmt nichts dagegen. Tatsächlich greift hier, wie bei so vielen Sachen das „Mein – Dein – Vorurteil“. Faktisch betrachtet kann den Strauch jeder Mensch, der vorbeikommt, genießen und auch die Besitzer haben, bis auf den berechtigten Stolz, nicht viel mehr davon als die anderen.

Vor Jahren hatten wir ein kleines Ferienhaus in Dänemark direkt am Strand. Es war eine sehr einfache kleine Hütte, die etwas wacklig auf einer Düne stand, ich hatte sie passend zu ihrem Aussehen „Streichholzschachtel“ getauft. Grau gestrichen und langweilig, ja ärmlich stach dieses kleine Haus von den luxuriösen Ferienhäusern in der Nachbarschaft ab. Aber es lag höher als die anderen Häuser, man konnte die vordere Glasfront zurückschieben und saß plötzlich direkt im Meerwind. Von vorn sahen wir den Ringköbingfjord und von hinten die Nordsee, eine traumhafte Aussicht, auch auf alle anderen Häuser. Wir waren glücklich und wenn sich jemand an dem Aussehen unserer Hütte hätte stören können, wären das wir am allerwenigsten gewesen, weil wir nämlich drinnen saßen.

Es wird immer etwas geben, was andere haben und ich gerne hätte. Das liegt in der Natur des Menschen. Aber sich einmal auszurechnen, was man von dem Guten der anderen alles umsonst hat – zum Beispiel einen herrlichen Strauch direkt vor der Haustür, mit dem man nicht die geringste Mühe hatte – wirkt wie ein Vitaminstoß für die gute Laune.

Machen Sie eine Frühjahrskur und gönnen Sie sich was: Das Glück der anderen.

 

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Das Glück der anderen - Glosse von Ruth Hanke
Glossen von Ruth HankeDas Glück der anderen

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