Altersweisheit
Mein Schwiegervater war, als ich ihn mit 16 Jahren kennenlernte, 42 Jahre alt. Trotzdem kam er mir uralt vor. Besonders verstärkte sich dieser Eindruck dadurch, dass er öfters seine Lebenserfahrung uns Jungen gegenüber herausstrich, und grundsätzlich glaubte im Recht zu sein.
Daher entstanden damals gewisse Interessenskonflikte, denn RECHTHABEN war eigentlich das Privileg, auf das ich, die Älteste von vier Kindern, ein verbrieftes Recht zu haben glaubte. Der Randolf, damals 18 Jahre alt, war zwar weniger selbstbewusst als heute, aber auch schon höchst eigenwillig. Er ließ sich ungern vorschreiben, was er zu tun und zu denken hätte, so dass mein Schwiegervater mit uns seine liebe Müh und Not hatte.
NIEMALS, das nahmen wir uns fest vor, würden wir einmal jungen Menschen mit unserer echten oder vermeintlichen Lebenserfahrung daherkommen!
Das Spiel des Lebens nahm unbarmherzig seinen Lauf. Schon als unser erstes Kind, der Daniel, drei Jahre alt war, konnte der Randolf nicht mit seiner Lebenserfahrung hinter dem Berg halten, in dem er den kleinen Daniel warnte: „Schneide bloß nicht mit deiner Bastelschere die Knöpfe von deiner Bettwäsche ab!“ Denn der Randolf hatte sich daran erinnert, dass er als kleines Kind die Knöpfe der Bettwäsche abgeschnitten hatte und wollte nicht, dass sich das Desaster wiederholte. Ich sehe noch Daniels sehr interessierte, hellblaue Augen vor mir, als er das hörte, als ob ihm blitzartig eine völlig neue Idee aufgegangen wäre. Es ist klar, was kurz darauf mit den Knöpfen passierte.
Die meisten Menschen reagieren auf das Wort „Lebenserfahrung“ eher allergisch, viel bessere Chancen hat man, wenn man ihren Widerspruchsgeist herausfordert, z.B.: „Randolf, ich bin sicher, unser Staubsauger ist TOTAL kaputt! Wir müssen einen Neuen kaufen!“ So eine Ansage ist quasi ein Garant dafür, dass 10 Minuten später der Staubsauger wieder einwandfrei funktioniert, während der Ehemann danebensteht und einen mitleidigen Kommentar von sich gibt: „Ha! Kaputt! Das glaubst du ja selbst nicht!“ Wenn ich es aber mit dem Spruch versucht hätte: „Kannst du bitte den Staubsauger reparieren, nach meiner Erfahrung ist gar nicht viel kaputt, vielleicht hat er einen Socken verschluckt“, müsste ich mich wahrscheinlich noch heute mit einem Leifheit-Besen behelfen.
Einzig, was die Morgensteifheit angeht, ist bei dem Altersunterschied argumentativ kein Kraut gewachsen.
„Au, mein Kreuz!“, stöhnt der Randolf beim Aufstehen. „Was bin ich für ein alter Knacker geworden!“
„Ich auch!“, stimme ich zu. „Mir tut im Moment alles weh!“
„Nein! Du bist zwei Jahre jünger als ich! Komm erstmal in mein Alter, dann weißt du, wie das ist!“
„Aber das hast du doch vor zwei Jahren auch schon gesagt und vor fünf und zehn Jahren…“
„Na, und!?“, beharrt er. „Trotzdem bist du ein junger Hupfer und brauchst jetzt noch nicht mit Jammern anfangen!“
Aha. Und diesen ungeheuren Abstand – das sagt mir jetzt meine Erfahrung 😊 – werde ich in diesem Leben nie mehr einholen können.