Aktuell nichts Neues

Der adrette, junge Mann auf dem Kanal: „Schwafel Nonstop“ grinst einen aufmunternd an, nachdem er zum fünften Mal in einer Stunde die neuesten Ereignisse der aktuellen Regierungskrise heruntergeleiert hat: „Bleiben Sie bei uns! Nach einer kurzen Werbepause (also, das ist gelogen!), erfahren Sie hier wieder das Neueste aus aller Welt! Schwafel Nonstop ist immer aktuell!“

Und sogar, wenn das wahr wäre – und das steht noch gar nicht fest! – wollen wir wirklich hören, was Schwafel Nonstop unter „aktuell“ versteht? Die Spitzenleistungen der Destruktivität werden auch mit dem achtzehnten Aufguss nicht besser, die toten Opfer des Amoklaufs nicht lebendiger, die Machenschaften einer Bank, die einer alten Frau hoch riskante Anlagepapiere verkauft und sie so um ihr Vermögen geprellt hat, nicht entschuldbarer, wenn man all das bis zur völligen Abstumpfung wiederholt.

Im Gegenteil! Durch die dauernde, sensationsgeile Berichterstattung haben wir uns bereits an den Blick durch das Teleobjektiv gewöhnt. Alles wird uns ungefragt, frei Haus, aus größter Nähe präsentiert. Und da gibt es keine Schamgrenze, vor der die Kamera Halt macht. Unter Schock stehende Angehörige am Flughafen, die gerade von dem Flugzeugabsturz und dem Tod ihrer Familie erfahren haben, werden tränenüberströmt gefilmt und in Echtzeit gesendet. Unter dem Deckmantel der stets geheiligten „Nachrichtenübermittlung“ und „Pressefreiheit“ lernen wir unterschwellig und selbstverständlich, dass es offenbar kein Recht auf den Schutz der Privatsphäre gibt. Jede Grenzüberschreitung, so übergriffig und grausam sie auch sein mag, ist scheinbar gerechtfertigt, wenn das, was gezeigt wird, nur überhaupt noch jemanden interessieren könnte. Es gibt hier einen Weg nach unten, auf dem es kein Zurück mehr gibt.

Was interessant ist, entscheidet die Quote. Und es wird ALLES unternommen, um sie zu steigern. Diese Branche braucht den Lebensmittelskandal, den Terroranschlag, die Regierungskrise. Wenn sie das nicht hat, muss sie es herbeireden oder zumindest Trumps Twitter-Nachrichten in endloser Reihenfolge wiederholen, denn: Was sollten sie sonst tun? Deswegen werden die Zwistigkeiten verschiedener Politiker bis an die Schmerzgrenze ausgewalzt und das, was Kommentatoren, Parteifreunde, Parteifeinde und ihre Friseure dazu sagen. An der Menge der ewig Mitredenden erkennt man, dass es weniger um Berichterstattung als um die Lust am aufgeblasenen Skandal geht. Je mehr Leute mitreden, desto weniger weiß man am Schluss und überdies stellt sich bei einem selbst dunkelgraue Verzweiflung ein.

Würden wir im Restaurant wohl ein Essen bestellen, bei dem auf der Speisekarte steht: „ … mit reichlichem Zusatz an Pestiziden, Schwermetallen und E 605 versehen.“ Natürlich nicht. Nur geistig lassen wir jeden Morgen und Abend ein erstaunliches Maß an Vergiftung zu. Dabei können wir nicht erwarten, dass der Nachrichtensender für unseren Seelenzustand die geringste Verantwortung übernimmt. Oder würde der junge Mann von Schwafel Nonstop wohl eines Tages mit den Worten auftreten: „ Guten Morgen, liebe Zuschauer! Aktuell nichts Neues! Darum hören wir jetzt eine Stunde lang das vielstimmige Zwitschern der Waldvögel im botanischen Garten. Viel Freude damit!“ Nein? Schade.

Gott sei Dank können wir selbst etwas tun. Eines Morgens rief ich meinen Vater an: „Chef, hast du heute schon die Nachrichten gesehen?“
„Nein.“

„Warum nicht?“

„Weißt du, Ruthl, ich fange den Tag lieber mit einem schönen Gedicht an. Damit geht es mir besser.“

Ich kann es ihm nicht verdenken, besonders nicht, seitdem ich es selbst ausprobiert habe, zum Beispiel mit einem Gedicht von Goethe:

„Ich ging im Walde so für mich hin,
Und nichts zu suchen, das war mein Sinn ..“

Genau das will ich tun: Nichts suchen. Ich gehe einfach etwas raus und lass die Sensationsgeier in der Flimmerkiste ihren Quark ohne mich verzapfen. Die klare Luft tut mir gut. Im Wald sehe ich, wie ein Igel mit seinen kleinen, eiligen Füßchen über den Weg läuft. Er lebt in seliger Unwissenheit von Schwafel Nonstop und hört außer dem Rauschen der Baumwipfel nur tiefe Stille.

Im Wald nichts Neues.

 

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Aktuell nichts Neues - Glosse von Ruth Hanke
Glossen von Ruth HankeAktuell nichts Neues

  • Heidrun

    Ist mir aus dem Herzen gesprochen. Dieses ewige Gieren nach Zwistigkeiten und Skandal – und dabei das Verschweigen von all dem Positiven, das es auch gibt – verursacht mir Bauchschmerzen.

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