KURZGESCHICHTE: Eingang Biergarten
Konrad Brotsack, nicht mehr hauptberuflicher Student und nebenher Taxifahrer, sondern inzwischen hauptberuflicher Taxifahrer und nebenher Kneipengeher, war in der Taxi-Szene als „Konny Wegglaseggla“ bekannt.
Jetzt, nach der Tagschicht, saß er in seinem Lieblingsbiergarten und betrachtete die Kastanien, die sich in diesem April mit dem ersten, hellen Grün geschmückt hatten.
Ein mieser Tag war es wieder gewesen. Das Geschäft lief schleppend bis schlecht. Ein paar gehbehinderte Rentner hatte er vom Arzt um drei Ecken nach Hause gefahren, einer Schwangeren die Koffer bis in den dritten Stock hoch getragen; viel Trinkgeld war nicht herausgesprungen.
Sein Blick fiel auf eine Erdhummel, die sich an einigen gelben Blüten zu schaffen machte. Die hatte es gut! Sie konnte sich ihr Futter einfach zusammensuchen, musste keine Miete zahlen und keine Steuer, kein Wasser, kein Strom; die Altersvorsorge fiel bei der Hummel wahrscheinlich auch flach und sie schuldete nicht einmal dem Chef Rechenschaft darüber, warum heute wieder so wenig zusammen gekommen war. Schlaues Tier!
Er sah auf, ob jetzt endlich die Julie das Bier bringen wollte. Auf dem schmalen Teer-Weg, der in den Biergarten führte, traten zwei Gestalten vom einen Fuß auf den anderen. Beide hatten Wollmützen auf und trugen diese quergesteppten Jacken, mit denen man sofort wie Meister Propper aussieht. Vor kurzem hatte ein Fahrgast so eine Jacke in schreiendem plastikblau bei ihm im Wagen vergessen, sie lag immer noch im Kofferraum. So kalt war es nicht mehr, dachte Konny, aber manche Menschen trugen eben sommers wie winters die gleiche Kleidung. Seine Iris zum Beispiel trug meistens Jeans und T-Shirt, das sah sehr süß aus, aber … energisch schob er den Gedanken an Iris und die sich häufenden Streits weg. Wenn er sich schon ein Bier gönnte, wollte er es auch genießen und nicht darüber nachdenken, was alles schiefgegangen war.
Gerade kam ein älteres Ehepaar und setzte sich an den Nebentisch.
Die beiden Wollmützenträger saugten an ihren Zigaretten, als müssten sie den sozialverträglichen Tod durch Lungenkrebs gleich im Hier und Jetzt verwirklichen. Dabei steckten sie die Köpfe zusammen und ließen die Blicke über den Biergarten wandern wie Suchscheinwerfer. „Nervsäcke!“, hätte Konny ihnen am liebsten zugerufen. „ Was wollt ihr denn in einem Biergarten, wenn ihr nicht einmal in Ruhe euer Bier trinken könnt?“ Es war offensichtlich, dass die beiden auf jemanden warteten, aber warum man sich dazu nicht hinsetzen konnte, war Konny nicht klar.
Der kleinere von beiden murmelte etwas mit polnischem oder tschechischem Akzent. „Eingang BIERGARTEN, hat er gesagt, ganz sicher, Eingang Biergarten Schildower Straße!“ Konny überlegte. Hatte der Biergarten überhaupt einen richtigen Eingang? Man konnte von der Straße aus hereinkommen, an der kleinen Mauer vorbei oder von hinten vom Parkplatz her – aber ein richtiger Eingang war das hinten und vorne nicht.
Trotzdem – „Eingang Biergarten“, das hatte er schon einmal, nein, schon oft gehört. Er kramte in seinem Gedächtnis, ob das der Text eines Ohrwurms gewesen sein könnte oder ein Reim auf irgendetwas… da kam die Julie mit dem Bier.
Er nahm drei tiefe Schlucke, das tat gut und ließ den erfrischend würzig-herben Geschmack nachwirken. Jetzt am späten Nachmittag legte die Aprilsonne die Strahlen mit sanftem Licht über Häuser und Bäume, er ließ sich zurücksinken. Wenn Iris jetzt da wäre, wäre es noch schöner. Aber leider hatte erst gestern Abend dieser blöde Krach stattgefunden, ausgerechnet wegen dem Kreuzschlitzsauger der Kleinen. Die kleine Ronja hatte Zähne bekommen und zerbiss den Gummisauger, woraufhin sich Konny schlicht geweigert hatte, jede Woche 4.99 Euro für einen Flaschensauger auszugeben. „Du bist ja bloß zu faul, die Kleine mit dem Löffel zu füttern“, hatte er geschrien. Natürlich war das ungerecht! Iris war nicht faul: Sie brachte jeden Morgen das Kind zu ihrer Mutter, um halbtags in der Wäscherei zu arbeiten, trotzdem reichte das Geld kaum aus. Seit der achten Klasse hatte er nie eine andere als Iris angeschaut. Dass sie jetzt auf einmal wegen jedem Wortwechsel gleich die ganze Beziehung in Frage stellte, war wirklich bescheuert! Gut, er hatte es damals locker angehen lassen mit seinem Politologie-Studium, zu locker, wie sich jetzt herausstellte und dass er es dann hingeschmissen hatte, war ein Fehler, denn jetzt war der Zug abgefahren. Aber er war es doch, der am meisten darunter litt, nicht energisch genug der sein zu können, der er eigentlich sein wollte. Sie wusste nicht, wie sehr er eine zweite Chance ersehnte.
Musste sie ihm immer ihre Freundin Marita vorhalten, die den kleinen Hugo mit der Brille geheiratet hatte, der, obwohl er nur einen alten Schrottplatz geerbt hatte, sich jetzt im Recycling-Geschäft eine goldene Nase verdiente?
Nur nicht mehr stumm neben Iris im Bett liegen und so tun, als ob er schlief, um am nächsten Morgen mit kohlegrauen Schatten unter den Augen und einer völligen Leere im Gehirn aufstehen!
Deswegen war er hier, fiel ihm plötzlich auf, er wollte ruhig werden, bevor er nach Hause fuhr, damit nicht gleich wieder ein Streit losbrach.
Die Julie hatte dem Ehepaar Schweinebraten mit Klößen serviert, während die beiden ungemütlichen Burschen mit den Wollmützen inzwischen getrennt um die Grenzen des Biergartens herumwanderten und dabei jeden Neuankömmling mit Argus-Augen musterten.
Warum ruft ihr denn nicht an, wo euer Freund bleibt, dachte Konny, hat doch jeder heute ein Handy, mancher sogar zwei oder drei. Seltsam. Offenbar hatten die Typen von dem, den sie erwarteten, keine Handynummer, vielleicht hatten sie von ihm nicht einmal den Namen?
Dann musste es sich um etwas äußerst Anonymes, Geheimes handeln.
Vielleicht hatten sie sich einfach verfehlt. Aber in der Schildower Straße gab es garantiert nur einen einzigen Biergarten, er als Taxifahrer wusste das genau. In seinem inneren Hören vernahm er ganz deutlich Helgas raue Stimme aus der Taxifunk-Zentrale: „Schildower Straße anfahren … Eingang TIERgarten“?
Das war es!
Wie von selbst stand er auf, legte ein paar Münzen neben das Bierglas und strebte seinem Taxi zu. Sein Herz klopfte wie ein Vorschlaghammer gegen die Rippen, aber er wusste es: Dies war seine Chance!
Verdeckt von einem Lieferwagen, zog er die schwarze Kapuze seines Sweatshirts über den Kopf, schlüpfte in die wattierte Nylonjacke und nahm die Schreckschusspistole aus dem Handschuhfach. Er fuhr etwa einen Kilometer die Schildower Straße hinunter und parkte im Halteverbot. Wenn es gut ging, würde es schnell gehen. Wenn es nicht gut ging, auch.
Die Hände in den Jackentaschen stiefelte er mit ausgreifenden Schritten dem Eingang Tiergarten zu und da waren sie auch schon: Zwei wehrhaft aussehende Kerle, die den Herrschaften im Biergarten verdächtig glichen; einer groß und wuchtig, der andere dürr wie eine Zaunlatte, der eine Sporttasche an sich drückte. Das Warten hatte sie offenbar reichlich nervös gemacht.
„Was passiert?“ radebrechte der eine. „Proplämm?“ „Quatsch! Davaj, davaj!“ befahl Konny. „Haperr eilik!“ „Wo ist Zlatko?“, fragte der Dünne.
„Du verruckt?“, zischte Konny. „Keine Name!“ Der Kleine hielt ihm die Tasche hin, aber Konny verlangte: „Aufmachen!“ „Nein!“ protestierten sie, worauf Konny die Pistole in der Jackentasche umklammerte und der eine den Reisverschluss ein Stück weit aufzog, bis Konny nickte. „Okay, haut ab!“ Was sie taten.
Ein voll aufgedrehter Bass, der einem schwer und trocken auf die Brust knallt, dröhnte Konny in den Ohren, als er zügig zum Taxi zurücklief und die Geldtasche ganz normal im Kofferraum verstaute. Aber schon spürte er, dass er ein anderer wurde, als er den Wagen gelassen durch den dichten Berufsverkehr steuerte, zwei große Kisten Lebensmittel einkaufte, drei Kreuzschlitzsauger und einen Blumenstrauß, als er Iris umarmte und die Tasche ohne Angst im Holzverschlag auf dem Dachboden einsperrte. Das war die zweite Chance, eine dritte würde er nicht brauchen.
Am übernächsten Tag stieg ihm ein Fahrgast zu, der ihm die Überschrift der Tageszeitung hinhielt: „Drogenfahndung dicker Fisch ins Netz gegangen“ stand da.
„ Im Milieu ist was gewaltig schiefgegangen“, grinste der Mann. „Zwei Drogenkuriere haben aus Angst um ihr Leben Polizeischutz in Anspruch genommen und gründlich ausgepackt“, lachte er. „Ja, Glück muss der Mensch haben! Herrliches Wetter heute. Setzen Sie mich an einem Biergarten ab.“ „Biergarten Schildower Straße?“ „Kann man den empfehlen?“ fragte der Mann. „Doch, ja“ meinte Konny. „Das Bier ist gut, Essen auch, es gibt ordentliche Portionen, ich sag es mal so: Man kriegt was für sein Geld.“
Er lächelte in den Rückspiegel.
Eine flotte Geschichte, sehr anrührend und menschlich erzählt. Man freut sich mit allen Beteiligten, wie sie ausgeht.