Das Messer

„Lehrjahre sind keine Herrenjahre“, sagt ein altes Wort und dem konnte ich nur zustimmen, als ich mit 17 Jahren eine Lehre bei einer Fürther Firma als Grafikerin anfing.

Ich wurde vom ersten Tag an in die Arbeit der Werbegrafiker und Druckvorlagenhersteller eingenordet, ich war mit kopieren, der Reprokamera, dem Lichtsatz, der Rasterretusche und vor allem herumrennen beschäftigt: Von der Grafik in den Druck, vom Druck in die Mustermacherei, die Schlosserei, das Lager, die Stanze und die Personalabteilung. Und dadurch lernte ich die Menschen kennen, es gab viele sehr nette, freundliche Mitarbeiter und auch gar nicht so wenige, die nicht nur intellektuell, sondern auch charakterlich ziemliche Deppen waren.

Ich war das von zu Hause nicht gewohnt und empfand es als große Herausforderung mit allen, so gut es ging, zurechtzukommen. Zum Glück verstand ich mich mit meiner künstlerischen Ausbilderin, ich galt als begabt und kriegte nach etlichen Rückschlägen tatsächlich einen Fuß auf die Erde. Die schwierigste Prüfung stand mir aber bevor zu einer Zeit, als ich überhaupt nicht mehr damit rechnete und zwar im dritten Lehrjahr, als drei neue Auszubildende in die Grafik kamen, die ich unter meine Fittiche nehmen sollte. Ein Mädchen von den dreien war ehrgeizig, fleißig und gewissenhaft, aber das andere Mädchen und der junge Mann: Au weih!

Die junge Svenja Wallmann war unhöflich, meistens wegen irgendetwas wutentbrannt und geradezu sagenhaft schlampig. Da sie einen dauernd unterbrach und vom ersten Tag an alles besser wusste, war es fast unmöglich ihr etwas beizubringen. Der blasierte junge Mann, den sie aus mir unverständlichen Gründen eingestellt hatten, war vielleicht noch weniger als sie an der Arbeit interessiert, aber da es meine Aufgabe war, ihn zum Arbeiten zu bringen, befand ich mich in der Bredouille.

Eine Situation steht symptomatisch für die ganze Lage:
Der gefürchtete Abteilungsleiter kam hereingefegt und legte mir mehrere Auftragsformulare auf den Tisch, oben auf diesen DIN A 4-Blättern ist vermerkt, wieviel Zeit für den jeweiligen Auftrag vorgesehen ist. „Die ersten drei soll sich der Herr Laschner vornehmen!“, ordnete er an. „Wo ist denn der schon wieder?“ Ich sah alarmiert von meiner eigenen Arbeit auf, in der ich seit neuestem ständig unterbrochen wurde. „Ja, ich weiß nicht“, meinte ich. „Vielleicht ist er austreten gegangen.“ „Herrschaft!“, knurrte der Abteilungsleiter. Hat´s der Kerl mit der Blase? Jedes Mal, wenn ich hereinkomme, ist der austreten!“ „Ich will gleich mal nachsehen“, bot ich an. „Ja, tun Sie das! Die Zeit läuft!“ Es war mir peinlich, die Herrentoilette zu betreten. „Alex?“ rief ich. „Bist Du da?“ Keine Antwort! „Alex!“ Keine Antwort. Aber ich sah, wie sich feine Rauchwolken aus einer Kabine kringelten. „Sag Mal, spinnst du?“ schimpfte ich. „Auf deinem Platz liegen drei Aufträge, der erste hat eine halbe Stunde Zeit, davon sind schon 10 Minuten um. Jetzt komm Mal in die Gänge!“ „Glabbstes! Ned amol affm Abbott hod mer sei Ruah!“ Schlecht gelaunt kam er zum Vorschein. Am Platz beugte er sich über den Auftrag. „Also, was steht da?“, fragte ich.
„Dia schneiden…“
„Aha! Was brauchst du dazu?“
„Dia-Film.“
„Ja, also schneide ihn ab!“
Er guckte trübsinnig in seine Schublade und rief: „Svenja, leih mer dei Scher!“
Aber auch Svenja fand ihre Schere nicht. Ich hatte jetzt keine Zeit mehr dazu, ihnen zum wiederholten Male zu erklären, dass man die Schere immer griffbereit haben muss, dass sie eines der wichtigsten Werkzeuge ist, die man auf Schritt und Tritt braucht, ich nahm meine Schere heraus: „Hier, nimm meine!“
Er säbelte, ohne richtig hinzugucken ein Stück von dem großen Rollenfilm ab.
„Weiter!“ kommandierte ich. „Was steht da?“
„Maße: 55 x 40 cm“

Was? Du hast das Maß nicht vorher berücksichtigt, steht doch ganz oben drauf! Jetzt messe Deinen Film nach!“
Nachdem er endlich sein Lineal ausfindig gemacht hatte, verkündete er: „30 x 27“

„So! Das kann man jetzt wegschmeißen!“, knirschte ich. „Schneide einen PASSENDEN Film herunter!“ In dem Moment kam wieder der Abteilungsleiter herein. „Herr Laschner! Wie weit sind wir denn?“ „So gut wie fertig!“ schwindelte ich. „Wir … wir haben es gleich!“

An dieser und ähnlichen Situationen merkte ich damals vor allem eines: Ich taugte nicht zur Führungspersönlichkeit. Was mein Mann Randolf ohne die geringste Mühe fertigbrachte, nämlich den Leuten klarzumachen, wer der Chef ist, wollte mir offenbar gar nicht gelingen.

Immer wieder ließ ich mich von einer falsch verstandenen Solidarität dazu bringen, fünf gerade sein zu lassen, bis dann endlich die Sache mit dem Messer passierte.

Das Schneidemesser war das wertvollste und persönlichste von allen Werkzeugen, ein Metallgegenstand, von der Größe eines kleinen, schmalen Füllers, mit aufgerauter Grifffläche, in den man unterschiedliche Klingen einspannen konnte. Der alte Grafiker Breitenbach hatte mir versichert, dass so eine Klinge, richtig geschliffen und befestigt, ein halbes Leben hielt, er selbst hatte mir damals die Klinge in geduldiger Kleinarbeit geschliffen, dass sie so scharf wie nötig war, aber auch so weich und glatt, dass sie nicht gleich die Trägerfolie des Dia Films mit zerschnitt. „Und jetzt, Mädele, lass dir den Namen eingravieren, sowas kriegt leicht Beine, verstehst mich schon, ja?“ Ich befolgte seinen Rat und bat den Chef der Mustermacherei, mir in den strukturierten Griff den Namen einzuschleifen. Eigentlich dachte ich ja nicht, dass das Eingravieren notwendig wäre, aber durch meinen Opa hatte ich gelernt, den Rat der Alten ernst zu nehmen und überdies sperrte ich das kostbare Messer jeden Abend mit all den anderen Werkzeugen in meinen Schreibtischunterschrank ein.

Aber an einem Morgen kam ich in die Arbeit, da war mein Schloss aufgebrochen und das Messer fehlte. Von den Lehrlingen wollte keiner etwas gehört oder gesehen haben, die anderen Grafiker hatten die Gleitzeit genutzt und waren erst später gekommen.

In der Pause ging ich ein bisschen herum, während die anderen in der Kantine waren, betrachtete Svenjas unaufgeräumten Schreibtisch und da lag mein Messer. Es war mein Messer und nichts anderes, nur dass da, wo der Name eingraviert war, jetzt ein weißes Schildchen klebte, auf dem: „S. Wallner“ stand. Kurz, ganz kurz überlegte ich, ob ich Svenja unter vier Augen auffordern sollte, mir mein Messer zurückzugeben, aber dann ging ich in das Büro des Abteilungsleiters und erzählte ihm die Geschichte. Als Svenja aus der Pause zurückkam, stand schon der Abteilungsleiter an ihrem Platz. „Frau Wallner, ist das Ihr Messer?“ „Steht doch drauf, oder?“ gab sie zurück, da nahm er das Messer und entfernte das Pappschild, unter dem mein Name sichtbar wurde. „Okay,“ meinte er zu ihr. „Wir zwei gehen jetzt runter zum Personalchef, wir haben einen Diebstahl zu melden, kann sein, dass das auf eine fristlose Kündigung hinausläuft, aber wenn er Ihnen noch eine Chance gibt, das weiß ich gewiss, dann ist es die letzte!“

Ab da nahmen Svenja und alle anderen davon Abstand mir meine Sachen zu klauen. Kurz danach ergriff ich die Gelegenheit, die Verantwortung für die neuen Auszubildenden an einen zackigen, jungen Kollegen abzugeben und vertiefte mich in meine Naturzeichnungen.

Ich fühlte mich wie im Himmel. –

 

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  • Philipp

    Sehr offen und ehrlich geschrieben! Und am Ende machen alle das, was sie am besten können und was ihnen entspricht. Vielleicht hat sogar Svenja W. ihre Lektion gelernt…

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