Der Augenblick

Es war an meinem Geburtstag, ein Tag im September, als ein Freund aus der Berufsaufbauschule und ich in unser Gespräch versunken einen Feldweg entlang gingen und kamen an den Beeten einer Gärtnerei vorbei, die in den vielfarbigen Blüten exquisiter Chrysanthemen neuer Züchtung prangten. „Schau mal, die schönen Blumen!“, sagte ich. Er sah auf. „Okay“, meinte er. „Welche willst du?“ und noch bevor ich antworten konnte, war er mit imponierender Leichtigkeit über den zwei Meter hohen Maschendrahtzaun gesprungen, hatte die schönste Blume abgepflückt und mir überreicht. Wie viele Jahre ist das her? Aber ich sehe immer noch den schrägen Lichteinfall der warmen Nachmittagssonne, die Grashüpfer, die um unsere Füße herumsprangen und sein unverwüstliches Lachen.

Wozu braucht man eigentlich Blumen? Man kann sie nicht essen, die meisten jedenfalls; man kann nicht in ihnen wohnen wie in einem Haus, kann nicht in ihnen von A nach B fahren wie in einem Auto und sie wärmen auch nicht wie ein Mantel im Winter.

EIGENTLICH sind Blumen also völlig nutzlos, weswegen auch Menschen, die die tieferen Zusammenhänge nicht zu Ende gedacht haben, zu Blumen oft nur: „Sinnlos rausgeschmissenes Geld!“ einfällt.
Ist spontan in einen Augenblick der Freude, des Glücks und der Dankbarkeit zu investieren wirklich sinnlos? Vielleicht fehlt in manchen Beziehungen nichts so sehr wie ein paar Blumen, einfach so? Nachgewiesenermaßen fehlt es in fast allen an phantasievollen Komplimenten, Liebesbriefen und herzförmigen Pralinen. Es fehlt der Mut, sich nicht nur zu einem Gefühl zu bekennen, sondern manchmal auch schon überhaupt eins zu haben. Es fehlt der Mut, nicht nur das Gute zu wertzuschätzen, sondern auch das Schöne.

„Fleuretir“ ist ein französisches Verb und heißt wörtlich: „Mit Blumen umgeben“, das Wort „Flirt“ kommt daher. Bei einem Flirt macht man genau das: Man umgibt den anderen im tatsächlichen und übertragenen Sinn mit Blumen, eine Kunst, die in unserer modernen, sachlichen Welt leider oft vernachlässigt wird. Wer will sich denn heute noch den Kopf darüber zerbrechen, wie man ein gleichzeitig formvollendetes, ehrliches und zu Herzen gehendes Kompliment macht? Wer übt sich denn noch in der Kunst seinen Lieben durch Briefe schreiben seelisch nahe zu sein, in dem man dem anderen sein Herz öffnet und so Tiefen und Untiefen in der Beziehung überwindet. Wer einmal selbst so einen Brief bekommen hat, weiß, was für ein unschätzbares Geschenk er darstellt, das manchmal über viele Jahre Trost und Glück geben kann so wie mir die Erinnerung an die geklaute Chrysantheme.

Ich weiß nicht, ob ich achtzig Jahre alt werde, aber vielleicht werde ich mich dann immer noch an den Augenblick mit einem Lächeln erinnern, an diesen Zauber, den mir keiner mehr nehmen kann.

Eine Freundin von mir hat ein Plakat an der Tür, auf der steht: „Man kann im Leben auf vieles verzichten, aber nicht auf Katzen und Literatur.“

Also, ich finde: Blumen gehören auch noch dazu.

 

 

Der Hauptgewinn

Die Forscher haben rausgefunden
Und sagen es auch unumwunden
Dass von allen den Geschenken,
Die ein Mensch sich kann ausdenken,
All den schönen, guten Sachen
Die meiste Freude Blumen machen.

Egal ob Mann, Frau oder Kind
Die lustig oder grantig sind,
Ob Alte mit ganz wenig Haaren
Die schon etwas vergesslich waren:
Für alle war in Herz und Sinn
Der Blumenstrauß der Hauptgewinn.

Trotz ihrer kurzen Lebenszeit
Sind Blumen nie Vergangenheit.
Wer kann schließlich den Wert ermessen?
Die erste Rose: Unvergessen,
So kostbar wie der erste Kuss,
An den man manchmal denken muss.

Und Blumen sind, soweit ich sehe
Die Allzweckwaffe in der Ehe:
Schon bei der Hochzeit geht es los
Da muss ein Strauß her – riesengroß,
Auch Krisen schwer in Trauertagen
Kann man damit zu Grabe tragen.

Ob Dank zu sagen, Trost zu spenden,
Eindruck schinden, Streit beenden:
Mit Blumen ist alles in Butter
Bei Freundin und der Schwiegermutter:
Denn wenn du einem Blumen gibst,
Zeigst du damit, dass du ihn liebst.

 

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Der Augenblick - Glosse von Ruth Hanke
Glossen von Ruth HankeDer Augenblick

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