Adventskalender der Freundschaft

Lange bevor ich Michaela, die Mutter von Jenny, der besten Freundin meiner jüngsten Tochter Franziska leibhaftig zu Gesicht bekam, hatte ich schon eine Menge von ihr gehört, von ihrem aufbrausenden Temperament zum Beispiel und dass in der Familie von Jenny Regeln herrschten, die Franziska ziemlich seltsam fand: Regeln über die Zeit, wann ein Kind nach Hause zu kommen hätte. Solche Regeln gab es bei uns nicht, die Kinder kamen immer von selber heim. Ausgestattet mit einem großen Vertrauensvorschuss von Seiten ihrer Eltern und einem von den älteren Geschwistern schon leidlich ausgeweiteten Toleranzrahmen im Lebensstil, konnte Franziska nicht begreifen, wie man so hinter seinem Kind her sein konnte.

„Du kannst es dir echt nicht vorstellen, Mama“, wunderte sie sich über die Mutter ihrer Freundin. „Sie verfolgt die Jenny regelrecht, das ist Stalking – aber wirklich!“

Am Tage der Einschulung nahm meine amorphe Vorstellung von Jennys Mutter Gestalt an.

Ich sah sie und Jenny hinten an der Wand des Klassenzimmers, beide hellhäutig, dunkelhaarig und unkonventionell. Sie hielten abwechselnd eine große, türkisfarbene Schultüte in der Hand, die sie augenscheinlich selbst gebastelt hatten und warteten der Dinge, die da kommen würden. Ich betrachtete die Frisur von Jennys Mutter: Die Haare standen vom Kopf nach allen Seiten igelartig ab, sie schillerten blauschwarz wie das Gefieder eines Raben, ihre Augen glitzerten wie Salz, Kohle und Obsidian, ein magentafarbenes Flackern über den Wangenknochen verriet eine gewisse Aufregung; die kleine Jenny neben ihr strahlte in ungetrübter Erwartungsfreude. Mühevoll drang in mein Bewusstsein, dass mich eine Bekannte schon zum dritten Mal fragte, wo meine Kleine Tanzunterricht hätte, widerstrebend sah ich in ihr ausdrucksloses Gesicht und stellte abrupt fest, dass ich mich langweilte. Da hinten, dachte ich, bevor ich antwortete, ist das wirkliche Leben und ich stehe hier herum.
Franziska war in der zweiten Klasse, als ich überraschend ins Krankenhaus musste. Gleichzeitig musste der Randolf im Rahmen seines NIMBAS-Studiums für zehn Tage nach Barcelona fahren und ich lag einigermaßen frustriert in meinem Krankenhausbett, als mich ein Anruf erreichte: „Michaela U., die Mama von Jenny …“ ich hörte eine helle, fast feine Stimme und brauchte einige Augenblicke, bis die dazugehörige schwarzhaarige Gestalt vor meinem geistigen Auge erschien. Sie bot mir an, Franziska für die Dauer meines Krankenhausaufenthalts zu sich zu nehmen. Ich lehnte ab und stieß auf Überredungskünste: „Überlegen Sie es sich doch noch einmal, die Kinder verstehen sich prima, die Kleine hätte es so gut bei uns.“ Im zweiten Anlauf sagte ich zu und Franziska hatte es dort wirklich gut, wie sie es im ersten Tagebuch ihres Lebens verewigt hat.

Als ich nach Hause kam, brachte ich Michaela einen großen Blumenstrauß, von dem sie überrascht schien. „Die schönen Blumen! Ich werde ja so verwöhnt!“ Das fand ich gar nicht, eigentlich, dachte ich, hätte auch noch die passende Vase dazu gehört.

Was macht eine Freundschaft aus? Um der Freundschaft Bestand zu verleihen, bedarf es Gegenseitigkeit im Engagement und Respekt vor der Persönlichkeit des anderen, ehrlich sollte man sein, solidarisch und hilfsbereit.

Aber vor allem Anfang ist dieser eigenartige, manchmal recht unbewusste Zauber, eine Ahnung, ein intuitives Erkennen, ein gewisses Lächeln.

Ich saß in der alternativen Küche von Michaela und bemalte kleine Tontöpfe für einen Adventskalender. Sie hatte für jeden Topf die passende Farbe, für jede Farbe den passenden Pinsel und Glitzerstaub, Bastbänder, Reliefverzierungen, Kleber und 200 Scheren, Krepp-Papier, verwirrend viele Acrylperlen, Weihnachtssticker, Anhänger, Kugeln und Engelchen.

Mehr als sonst spürte ich in dieser Nähe eine große Sensibilität hinter dem resoluten Auftreten, eine leidenschaftliche, unerfüllte Ordnungsliebe hinter dem tatsächlichen Chaos, eine Detailversessenheit im Haushalt verknüpft mit einem ständigen Kriegsfuß gegenüber dem alltäglichem Leben mit all seinen Notwendigkeiten, einen dauernden, sehr tapferen Gegensatz in allen Eigenschaften, den ich nicht verstand, der aber bei mir Heiterkeit, Entspannung und ein tiefes Einverstanden sein auslöste, was ich gleichfalls nicht verstand. Mein angriffslustiger Geist legte sich in die Hängematte und lachte, während die Michaela die bemalten Tontöpfe mit Sprühlack versiegelte. Ich mochte ihre Farben, die radikal waren wie das Leben selbst, die Farben der Tischdekoration in gelb und orange, die Farben ihrer Kunst.

Ein Adventskalender war der Anfang, seitdem bringe ich ihr jedes Jahr einen Adventskalender.

Wie lange ist das jetzt her?

Älter bin ich geworden, älter und misstrauischer. Nicht mehr traue ich mir so leicht über den Weg, auch nicht über den Weg, auf dem ein anderer Mensch kommt. Sehr unterschiedlich sieht im Spiegel mein Äußeres aus zu dem Aussehen meiner Seele, einer kleinen kauzigen Silhouette, die misanthropisch in der Ecke sitzt. Ich denke an beste Freundinnen, die ich gehabt habe, wie nahe wir uns waren und frage mich, wie lange das jetzt wohl hält und sage mir, dass ich mich das nicht fragen sollte.

Alle Dinge, von denen wir leben, lassen sich nicht erkaufen, nicht erzwingen, nicht auf Vorrat stapeln: Luft, Licht, Liebe und Gottes Segen, Vertrauen und auch Freundschaft und noch viel mehr als uns vielleicht jemals bewusst sein wird.

Es ist der Moment, der zählt.

Nur jetzt, nur für heute, genügt es zu wissen, dass alles gut ist.

 

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